1792 - Die Nachtjägerin
Sie bewegte sich schnell und sicher. Das schaffte nur jemand, der sich auskannte. Das kleine Tor war kein Hindernis für sie. Es schien, als hätte sie sich durch die Gitterstäbe gezwängt, denn auf einmal stand sie auf der anderen Seite. Niemand sah sie, denn um diese Zeit war der Friedhof verwaist, und genau darauf hatte die Frau letztendlich gesetzt.
Das Tor zog sie wieder zu. Danach blieb sie stehen, um erst mal zu lauschen und ihren Blick in die Runde zu schicken.
Sie konzentrierte sich. Dabei bewegte sie sich nicht um einen Millimeter. In dieser Haltung hätte man sie leicht mit einem der hohen Grabsteine verwechseln können. Sie war das, was man eine dunkle Person nannte. Das begann bei den Haaren und hörte bei der Kleidung auf. Insgesamt war sie perfekt für einen Besuch auf dem Friedhof gekleidet, wenn man nicht gesehen werden wollte.
Und das wollte sie auch nicht. Sie hielt sich recht lange an diesem Ort auf. Sie saugte den Geruch des Friedhofs ein. Eine Mischung aus feuchter Erde und auch Blättern oder Gras.
Manche Menschen können die Gefahr riechen. Das war bei dieser Frau möglicherweise auch so, aber in ihrem Fall roch sie die Gefahr nicht.
Sie war allein, sie blieb allein, und das sollte sich auch für sie nicht ändern. Was sie hier zu tun hatte, ging keinen Menschen etwas an. Das war allein ihre Sache.
Nachdem sie sicher war, von keiner Seite beobachtet zu werden, verlor sie die Starre und machte sich auf den Weg. Wie ein dunkler Engel bewegte sie sich zwischen den Gräbern. Es war ihr genau anzusehen, dass sie sich einem bestimmten Ziel näherte, das sie nicht noch groß zu suchen brauchte.
Es gibt Friedhöfe, die liegen frei im Gelände. Da wuchsen auch keine Bäume oder Sträucher, sondern nur sorgfältig gestutzte Hecken.
Diese Ruhestätten gab es zumeist in den USA. Nicht hier in England, hier hatte der Friedhof noch ein normales Aussehen. Mit hohen Bäumen, auch mit Hecken und dem Flair der alten Zeit.
Sie huschte an den Gräbern vorbei, ohne dass sie ein Geräusch verursachte. Blumen schmückten manche Gräber, wobei die meisten verblüht waren. Hier und da war ein Geräusch zu hören, wenn ein Tier durch die Luft flog oder über den Boden huschte, ansonsten war es still.
Die Person hatte das Gelände für sich. Und so musste es auch sein. Etwas anderes hätte sie sich nie vorstellen können. Jetzt auf Menschen zu treffen wäre fatal gewesen. Für die eine Seite ebenso wie für die andere.
Allmählich kam sie ihrem Ziel näher. Sie erreichte einen Bereich des Friedhofs, der nicht mehr so stark bewachsen war. Er sah aus wie eine Insel. Hier wuchsen keine hohen Bäume, dafür hatte sich der Boden verändert. Er war mit kleinen Basaltsteinen gepflastert worden. Der Belag reichte bis an das flache Haus heran, das aus Backsteinen erbaut worden war.
Die Frau erreichte die Leichenhalle und ging an ihrer rechten Seite entlang. Der Boden dort war mit hellen Kieselsteinen bedeckt, die eigentlich unter ihren Schuhsohlen hätten knirschen müssen.
Die Frau eilte über die hellen Steine hinweg. Sie schien sie gar nicht zu berühren, und deshalb entstanden auch keine Geräusche. Wer genau hingeschaut hätte, der hätte in der Frau einen Geist vermuten können.
Möglicherweise war das auch der Fall. Es war nur niemand da, der es bestätigen konnte. Und so eilte die Gestalt geräuschlos weiter, bis sie das andere Ende der Leichenhalle erreichte und dort vor einer wuchtigen Tür stehen blieb.
Um sie zu öffnen, hätte sie aufgeschlossen werden müssen. Und dann eine schwere Klinke zu drücken, aber das brauchte die Frau nicht. Sie ging den letzten Schritt auf die Tür zu und hätte sie jetzt berühren müssen, was auch passierte, aber dann geschah noch etwas anderes.
Die Tür blieb geschlossen, und trotzdem konnte die Frau sie überwinden.
Sie ging hindurch. Als wäre die Tür nicht vorhanden. Es war verrückt, aber es stimmte. Sie verschmolz mit dem Holz der Tür, für einen Moment flirrte es innerhalb des Materials, dann war es vorbei, da sah die Tür wieder normal aus.
Die Frau hatte die Leichenhalle betreten. Sie blieb kurz stehen, schüttelte sich, als wollte sie eine Last loswerden, und ging dann weiter. Die Stühle standen nach vorn gerichtet und bildeten ein Viereck. An der linken Seite huschte die Gestalt vorbei und hatte bald die erste Reihe erreicht.
Auch dort blieb sie nicht stehen. Sie hatte keinen Blick für die kleine Erhöhung im Boden, die eine leichte Schräge aufwies.
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