Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
15 - Im Schatten des Grossherrn 04 - In den Schluchten des Balkan

15 - Im Schatten des Grossherrn 04 - In den Schluchten des Balkan

Titel: 15 - Im Schatten des Grossherrn 04 - In den Schluchten des Balkan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
Nuancen vom tiefsten Dunkelbraun bis zum schreiendsten Orange. Und dabei machte der Mensch ein so unbefangenes, ernstes Gesicht, als ob diese Malerei sich ganz von selbst verstehe.
    Ich war vom Pferd gestiegen und erwartete das Kommende mit lebhafter Neugierde.
    „Sydschyrda, meine Treppe!“ befahl sie.
    Also Sydschyrda, das ist Star, hieß der Mann. Hm, es gibt ja allerdings auch Prachtstare, wie jeder Ornithologe weiß. Der Gerufene schritt sehr gravitätisch zur Hintertür ins Haus hinein und brachte wirklich eine mehrstufige Treppenleiter herbei, welche er neben den Maulesel stellte. Die Reiterin stieg ab.
    „Was macht mein Mann?“ fragte sie.
    „Ich weiß es nicht“, war die Antwort.
    „Nun, er muß doch etwas machen!“
    „Nein.“
    „Dummkopf! Wo ist er denn?“
    „Weiß es nicht.“
    „Doch im Zimmer?“
    „Nein.“
    „In der Kammer?“
    „Nein.“
    „Wo denn sonst?“
    „Ich weiß es nicht.“
    „Er ist doch daheim?“
    „Nein.“
    „Also fortgegangen?“
    „Ja.“
    „Warum sagtest du's nicht gleich? Schaffe den Esel fort!“
    Der farbenprächtige Mensch hatte seine Antworten in höchst feierlicher Weise gegeben, mit einem Ernst, als ob es sich um die hochwichtigste Angelegenheit handele. Jetzt ergriff er den Esel beim Zügel und wollte fort.
    „Erst abladen, natürlich!“ schrie sie ihn an.
    Er nickte ihr verständnisvoll zu und machte sich nun daran, die Körbe abzunehmen.
    „Komm nun mit herein, Effendi!“ lud sie mich ein.
    Ich hatte mein Pferd an einen in den Boden gerammten Pfahl gebunden und folgte ihr. Es drang mir ein starker Geruch von Butter und heißer Sodalauge entgegen. Links bemerkte ich eine Vorrichtung, welche ich für den Backofen zu halten geneigt war, denn ein Dachsbau konnte sich doch nicht hier im Wohnhaus befinden. Rechts war der Eingang in den Wohnraum.
    Als wir da eintraten, stand ich dem leibhaftigen, allerdings jüngeren Ebenbild meiner ‚Erdbeere‘ gegenüber. Ich konnte nicht im Zweifel sein, daß es ihre Tochter sei.
    Diese war nach bulgarischer Weise, doch häuslich leicht gekleidet, hatte keine so uninteressanten Züge und besaß die größte Schönheit des orientalischen Weibes, die Wohlbeleibtheit, beinahe in demselben Grade wie ihre Mutter.
    Sie stand vor einigen Schüsseln und war im Begriff, von der darin befindlichen Milch die Haut mittels der zwei Zeigefinger nach ihrem weit geöffneten Munde zu führen.
    „Ikbala, was tust du da?“ fragte die Mutter.
    „Derisini tschykar-im – ich häute ab“, antwortete die Gefragte.
    „Nereje – wohin?“
    „Aghyz itschine – in den Mund hinein.“
    „Aber diese Häute sollst du doch auf einen Teller oder in einen Topf tun, keineswegs aber in den Mund.“
    „Es schmeckt gut!“
    Das war allerdings ein sehr triftiger Grund, welchen das Mädchen da angab. Die Mutter ließ ihn auch gelten, denn sie trat auf die Tochter zu, klopfte ihr zärtlich auf die volle Wange und sagte in liebkosendem Ton:
    „Benim tschüstlüka – mein Leckermäulchen!“
    Dieses Leckermäulchen richtete einen sehr erstaunten Blick auf mich. Die Mutter erklärte:
    „Dieser Effendi will sich hier bei uns ausruhen.“
    „Warum?“
    „Er ist ermüdet.“
    „So mag er draußen im Gras liegen. Wie kannst du ohne Schleier mit einem Fremden verkehren und ihn zu mir bringen, da du doch weißt, daß ich hier keinen Schleier trage?“
    „O, er ist mein Freund, mein Erretter!“
    „Warst du in Gefahr?“
    „In großer Lebensgefahr.“
    Jetzt richtete die Tochter ihre Augen mit verminderter Strenge auf mich; dann sagte sie:
    „Du kannst noch gar nicht zurück sein. Es muß dir unterwegs etwas geschehen sein?“
    „Freilich ist mir etwas geschehen.“
    „Was denn?“
    „Ein Unglück.“
    „Das vermute ich allerdings. Aber was denn für ein Unglück?“
    „Ich hatte nicht daran gedacht, daß heute einer der fünfzig unglücklichen Tage des Jahres ist; sonst wäre ich daheim geblieben. Ich war kaum eine halbe Stunde geritten, da tat sich vor mir die Erde auf – – –“
    „O Allah!“ sagte die Tochter erschrocken.
    „Ein blauer Rauch stieg hervor“, fuhr die Mutter fort.
    „Wai sana – wehe dir!“
    „Und aus diesem Rauche trat ein Geist, ein Gespenst hervor, welcher hundertvierundvierzig Arme nach mir ausstreckte – – –“
    „Allah beschütze dich! Es gibt viele und schlimme Gespenster auf der Erde!“
    „Allerdings, mein Kind. Mein Esel erschrak natürlich ebenso wie ich und entfloh, so schnell er

Weitere Kostenlose Bücher