Somniferus
1. Kapitel
Nein, ich glaube nicht an Gespenster, nicht an Übersinnliches
und Unerklärbares, doch das, was ich erlebt habe, ist so
rätselhaft und verstörend, dass ich mir einfach keinen Reim
darauf machen kann. Deshalb habe ich mich entschlossen, die ganze
Geschichte niederzuschreiben; vielleicht kann ich auf diese Weise
für mich selbst etwas Klarheit in die Sache bringen.
Alles begann mit einem verheißungsvollen Brief. Schon als
ich den Absender sah, schlug mein Herz schneller. Ich war wie jeden
Tag kurz nach zehn Uhr morgens die vier Stockwerke von meiner
winzigen Kölner Dachwohnung hinunter zum Briefkasten gegangen,
weil ich – wiederum wie jeden Tag – gehofft hatte, wichtige
Post zu erhalten. Wenn man Schriftsteller ist, hofft man immerzu,
dass endlich der erlösende Brief von einem der vielen Verlage
kommt, denen man seine Manuskripte geschickt hat – der
erlösende Brief, an den ein Verlagsvertrag angehängt ist,
der einem wenigstens für ein oder zwei Jahre ein von materiellen
Sorgen befreites Leben garantiert. Und plötzlich wird der
Briefträger der wichtigste Mensch im eigenen Leben – vor
allem, wenn man so zurückgezogen und ungesellig dahinvegetiert
wie ich. Unnötig zu sagen, dass auch an jenem Morgen nicht der
heiß ersehnte Vertrag in meinem zerbeulten Briefkasten lag;
nein, es war ein anderes Schreiben, das mich allerdings in nicht
minder helle Aufregung versetzte. Der Absender lautete: Notar
Heinrich Harder, Abt-Richard-Straße 12, 54.550 Daun. Dieser
Harder war mir zwar unbekannt, aber nicht weit von Daun entfernt
wohnte in dem winzigen Eifelstädtchen Manderscheid mein Erbonkel
Jakob Weiler, den ich sofort mit dem hoch amtlich aussehenden
Schreiben in Verbindung brachte. Ich muss es schamhaft gestehen: Mein
erster Gedanke war, dass Onkel Jakob etwas zugestoßen und ich
nun der Erbe seines kleinen Vermögens geworden sein könnte.
Ich vermochte nicht zu warten, bis ich wieder in meiner engen Wohnung
war; also riss ich den zartblauen Umschlag noch im Treppenhaus auf
und las die wenigen Zeilen.
Der Inhalt des Briefes war erregend und enttäuschend
zugleich.
Notar Harder bat mich, ihn so rasch wie möglich in seiner
Dauner Kanzlei aufzusuchen; eine Erklärung für diese Bitte
gab er nicht. Gerade als ich den Brief wieder zusammenfaltete,
streckte die alte Müller aus dem zweiten Stock ihren
verrunzelten Kopf zur Tür heraus und verzog den zahnlosen Mund
zur Karikatur eines Grinsens. Auch das gehörte zum
allmorgendlichen Ritual in diesem Haus, von dem ich manchmal den
Eindruck hatte, es sei von lauter Verrückten bewohnt, die sich
bei einem Anstaltsausflug von der Truppe entfernt und danach
gemeinsam ein ganzes Haus in der Kölner Liebigstraße
besetzt hatten. Was konnte es Schöneres geben, als diesem
Panoptikum wenigstens für einen oder zwei Tage den Rücken
zu kehren?
Wie zur Bestätigung meines Wunsches erschien nun Herr
Grausner aus dem dritten Stock auf der Treppe – er wohnte unter
mir und klopfte manchmal mit dem Besenstiel an seine Zimmerdecke,
wenn ich wieder meine »Negermusik«, wie er es nannte,
abspielte. Aber bei seinen eigenen »Übungen« am
Klavier, die so klangen, als würde eine Katze lebend durch einen
Fleischwolf gedreht werden, kannte er nicht die geringsten Hemmungen.
Seit ich ihn einmal auf diese Vergewaltigungen der
Gehörgänge angesprochen hatte, war zwischen uns eine solide
Feindschaft entstanden; daher würdigte er mich keines Blickes,
als er an mir vorbeiging. Frau Müller, deren Kopf noch immer wie
abgetrennt zwischen Tür und Rahmen schwebte, schleuderte er ein
munteres: »Hol dich der Teufel, alte Vettel!« entgegen. Ich
war nicht der Einzige, der den Umgang mit Herrn Grausner als etwas
schwierig empfand. Als ich mich wieder in den Hafen meiner Wohnung
gerettet hatte, verlor ich keine Zeit. Ich packte einen alten,
abgeschabten Koffer, der noch von meinem Großvater stammte und
einfach unzerstörbar war, mit dem Nötigsten für eine
zweitägige Weltreise, kratzte aus Hosentaschen, Schubladen,
Aktentaschen, Strümpfen und Kaffeedosen meine letzten Groschen
zusammen und machte mich auf den Weg zum Bahnhof.
* * *
Die Reise nach Daun war ein echtes Abenteuer. Die Bahn AG zeigte
sich wieder mal von ihrer besten Seite und brachte mich mit einer
Verspätung von nur einer knappen Stunde nach Wittlich-Wengerohr,
wo ich wiederum eine knappe Stunde auf den Bus nach Daun warten
musste. Also blieb mir genug Zeit für tiefe Betrachtungen
über
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