1505 - Dorina, die Friedensstifterin
Erntebesprechung abgesagt.
Das hatte noch mehr Unruhe verursacht, denn natürlich waren alle möglichen Leute gekommen, um Warna gebührend zu bemitleiden. Es war aber nicht nur das Mitleid gewesen, das diese Linguiden ins Haus der Vaccers getrieben hatte, sondern in mindestens ebenso starkem Maß die reinste Neugierde. Dorina hatte ihre Fragen und Bemerkungen gehört. „Wie konnte so etwas nur geschehen?"
„Bist du gestolpert?"
„Du hättest nicht so ein scharfes Messer nehmen sollen!"
Warna war noch halb benebelt - vom Schmerz, vom Schock und von den Medikamenten, die der Arzt ihr gegeben hatte. Auf die Fragen der anderen hatte sie ausweichend reagiert. Sie hatte der Sonne die Schuld an dem Vorfall gegeben, der Hitze und dem über den Hügeln aufziehenden Gewitter, dem Sluck und den Autras, dem grellen Licht und der Feuchtigkeit auf dem Weg - allem und jedem, nur nicht ihrer Tochter.
Und genau das war es, was Dorina beunruhigte.
Sie war ein lebhaftes Kind. Wenn sie mit dem Sluck herumtobte, gab es schon einmal Scherben.
Ihre Eltern hatten sich nie gescheut, darüber zu sprechen. Wenn sie es diesmal anders machten, dann mußte wirklich etwas besonders Schlimmes geschehen sein. Auch wenn niemand es aussprach - Dorina wußte, daß man ihr die Schuld an dem Vorfall gab. Zumindest ihre Eltern taten das.
Es tat ihr leid, was sie da draußen im Garten angerichtet hatte. Sie hatte das natürlich nicht gewollt. Aber wie hätte sie auch ahnen sollen, daß Warna diesmal so heftig auf die Sluck-Sprache reagieren würde?
Dorina hatte schon so oft gefaucht, daß sie nichts Ungewöhnliches daran finden konnte. Auch Segur und Warna fauchten manchmal, wenn der Sluck sich danebenbenahm. Früher hatten sie dann mit ihm geschimpft, was natürlich töricht war, weil der Sluck kein Wort Lingo verstand.
Auch der Sluck spürte, daß etwas nicht stimmte. Er hatte dem Küchenautomaten heute nur einen kurzen Besuch abgestattet und bei dieser Gelegenheit festgestellt, daß niemand bereit war, ihm ein schmackhaftes Abendessen zu servieren. Daraufhin war er auf die Suche nach Dorina gegangen, um sich bei ihr über die schlechte Behandlung zu beschweren. Sie hatte ihn auf später vertröstet, und er hatte das akzeptiert.
Jetzt saßen sie beide mucksmäuschenstill hinter dem Geländer im ersten Stock und lauschten.
Dorina sollte eigentlich längst im Bett sein. Segur und Warna glaubten auch tatsächlich, daß sie bereits schlief.
Sie sprachen miteinander, erst sehr leise, dann aber immer lauter. Zuerst hatte Dorina kein Wort verstanden.
Jetzt hörte sie sie sehr deutlich, und was sie sagten, ängstigte sie.
Sie stritten sich. „Wir müssen es melden!" sagte Warna heftig. „Es wird höchste Zeit."
„Das lasse ich nicht zu!" erwiderte Segur böse. „Willst du warten, bis andere es für uns tun?"
„Verstehst du denn nicht, worauf es ankommt?" schrie Segur so wütend, daß Dorina sich ängstlich noch tiefer in den Schatten des Geländers kauerte. „Man wird sie uns wegnehmen! Man wird sagen, daß sie zu den Schlichtern muß, nach Gurmayon, in diese Schule, auf der sie bleiben muß, bis sie erwachsen ist.
Willst du das?"
Dorina begriff, daß es bei diesem Streit um sie ging. Sie war wie erstarrt. „Natürlich will ich das nicht", sagte Warna zögernd. „Dann laß uns noch etwas warten", sagte Segur in beschwörendem Tonfall. „Gib ihr und uns noch ein wenig Zeit. Ein Jahr nur, vielleicht auch zwei oder drei. Das ist alles, was wir noch herausholen können.
Willst du diese Zeit verschenken?"
„Segur - Dorina hat mir vorhin im Garten befohlen, die Tomatenpflanzen in Ruhe zu lassen.
Verstehst du, was ich sage? Sie hat es mir befohlen! Sie sagte, sie könnte riechen, wie die Pflanzen schrien, als ich sie beschnitt.
Sie scheint den Geruch für eine Art Sprache zu halten."
„Warum sollte er das nicht auch tatsächlich sein? Ich habe selbst auch schon daran gedacht."
„Ich kann nur hoffen, daß ihr euch alle beide irrt. Wenn es nämlich wirklich so sein sollte, werde ich mein Leben lang kein Gemüse mehr essen."
„Du ißt auch Fleisch, obwohl du weißt, woher es kommt."
„Mit Tieren ist es schlimm genug, aber mit Pflanzen wäre es unerträglich", knurrte Warna und schüttelte sich. „Ein Tier kann man töten, und danach merkt es nicht mehr, was mit ihm geschieht. Aber wie tötet man eine Pflanze? Wo ist ihr Herz? Wo muß man das Messer ansetzen, um ihr Leben so schmerzlos wie möglich ein für allemal zu
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