1572 - Das Ritual
Meine Antwort hatte die beiden sprachlos gemacht. Sie schauten mich ungläubig an, denn so etwas waren sie von mir nicht gewohnt.
Dagmar fand als Erste die Sprache wieder.
»Du willst wirklich noch hier bei uns im Haus bleiben?«
»Ja. Das sagte ich.«
»Und dein Job in London?«
Ich verzog mein Gesicht wie nach einem Schluck sauren Weins.
»Klar, der Job.« Ich winkte ab. »Manchmal reißt man sich wer weiß was auf, um anschließend zu erkennen, dass es gar nicht nötig gewesen wäre. Soll ich mal zusammenzählen, wie viel Urlaub mir noch zusteht? So weit kann ich gar nicht rechnen. Der Fall hier ist gelöst. Wie haben den Riesenvogel zum Teufel geschickt, und ich werde mir selbst eine Belohnung gönnen, indem ich noch drei weitere Tage bleibe. Und davon wird mich keiner abbringen. Basta.«
Dagmar und Harry konnten noch immer nichts sagen. Ich hörte sie nur atmen.
Bis Dagmar in die Hände klatschte.
»Recht hast du. Urlaub war für dich immer ein Fremdwort. Jetzt sieh wenigstens zu, dass du die drei Tage in vollen Zügen genießen kannst.«
Ich lachte. »An mir soll’s nicht liegen.« Ich hob das mit Rosé gefüllte Glas hoch. »Na denn, Freunde, trinken wir auf euren und meinen Urlaub. Auf drei angenehme Tage.«
»Und ob wir das tun!«
Die Gläser klangen gegeneinander. Unsere Gesichter waren entspannt, und ich fühlte mich wirklich mehr als wohl. Meinen Entschluss hatte ich gefasst, und ich würde ihn nicht kippen. Da konnte passieren, was wollte.
Ich griff zum Handy. Suko wollte ich Bescheid geben und am Morgen auch im Büro anrufen. Alles war so wunderbar. Die nächsten Tage lagen vor mir wie auf einem roten Teppich präsentiert. So dachte ich.
Aber in meiner Euphorie hatte ich eines vergessen. Ich war zwar ein normaler Mensch, aber ich war auch John Sinclair, der Sohn des Lichts oder der Geisterjäger.
Jeder Mensch hat sein vorgeschriebenes Schicksal, und das galt besonders für mich, der immer im Fokus der anderen Seite stand.
Und so nahm auch jetzt wieder das Schicksal seinen Lauf…
***
Er ging durch das Wasser.
Er liebte die erfrischende Kühle.
Er schaute hoch und sah die hellen Flecken auf der Oberfläche, die das Mondlicht hinterlassen hatte.
Schritt für Schritt ging er dem Ufer entgegen und merkte, dass sich die Tiefe des Wassers verlor. Es umgab ihn wie Glas, das immer dünner wurde und schließlich nicht mehr vorhanden war, als er mit dem Kopf die Oberfläche durchstoßen hatte.
Sein Körper glitt ins Freie. Bleiches Licht umfing ihn. Das Wasser rann in kleinen hellen Perlen über sein Gesicht hinweg. Nass lag das farblose Haar auf seinem Kopf.
Er ging an Land.
Seine Bewegungen waren weich und geschmeidig. Der nackte Körper hatte eine seltsame Form. In der oberen Hälfte glich er dem eines Mannes, aber die untere, von den Hüften abwärts, war weiblich.
Er genoss den Gang an Land. Das Gras war weich und saftig.
Buschwerk schützte ihn vor neugierigen Blicken.
Aber Menschen hielten sich nachts an diesem Teil des Sees sowieso nicht auf. Es war eine der einsamen Stellen, von denen es nicht sehr viele gab.
Auf einer Lichtung stoppte er seine Schritte. Seine Haut war noch nass, was ihm jedoch nichts ausmachte. Erstrich sein Haar glatt und reckte sich. Er genoss alles, und er genoss sich selbst.
Er war perfekt.
Er hatte es geschafft.
Er war ein ER!
Doch er war auch noch eine SIE.
Und er war ein ES.
Er war alles gemeinsam. Und dafür gab es nur einen Ausdruck: Er war vollkommen…
***
Mein Gott, hatte ich gut geschlafen. Es war so wunderbar gewesen, mit dem Gedanken einzuschlafen, sich am nächsten Tag nicht in den Londoner Verkehr stürzen zu müssen, um ins Büro zu fahren, und das bei einem herrlichen Sommerwetter.
Ich hatte das Faltrollo in meinem Zimmer mit den schrägen Wänden nicht ganz heruntergelassen. So gab es einen breiten Spalt, durch den die Sonne scheinen konnte. Sie malte einen Streifen auf den Boden, der erst dicht vor der Zimmertür aus hellem Holz aufhörte.
Aufstehen?
Nein. Es war noch viel zu früh.
Ich hatte tatsächlich Urlaub, aber daran musste ich mich erst gewöhnen, und deshalb drehte ich mich noch mal auf die Seite.
Meine letzten Gedanken galten trotzdem dem Job. Ich hatte Suko noch am Abend erreicht und ihm von meinem Plan berichtet. Er war davon begeistert gewesen, er gönnte mir die Tage, und er würde es Sir James schon unterjubeln.
Zuletzt hatte er mir noch einen Rat gegeben. »Ruf du lieber nicht an, sonst schafft er es noch,
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