1572 - Das Ritual
hören.«
Was ich da vernahm, konnte mir einfach nicht passen. Der Kniende nickte. Ich hörte ihn schluchzen, und dann ließ er die Beine des Blonden los.
Der hatte noch nicht genug. Er hob einen Fuß an und trat dem anderen gegen die Stirn. Er wurde nach hinten geschleudert und prallte gegen die Hecke.
»Merk es dir für alle Zeiten. Kein anderer als ich ist dein Herr. Ich bin alles für dich.«
Ich war jetzt so nahe herangekommen, dass ich normal sprechen konnte, um verstanden zu werden.
»Was soll er sich merken?«, fragte ich.
Der Blonde vor mir zuckte zusammen, blieb für einen Moment in seiner gebückten Haltung stehen, dann fuhr er herum und starrte mich an.
Auch ich sah in sein Gesicht.
Und was ich dort zu sehen bekam, trieb mir einen Schauer über den Rücken…
***
Ja, der Blonde war ein Mensch. Er war ein Mann, aber ich hatte gleichzeitig den Eindruck, eine Frau vor mir zu haben. Ein Zwitter, eine Mischung aus Mann und Frau.
Sein Gesicht war einfach nur böse. Und trotzdem auf eine gewisse Weise engelhaft glatt. Mann und Frau waren darin vereint.
Er trug ein dunkelblaues Zweireiher-Jackett mit einer ebenfalls dunklen Hose. Das helle Hemd war mit silbernen Fäden durchwebt, und es konnte durchaus sein, dass sich darunter zwei Brüste abzeichneten.
Zwischen uns hatte sich ein unsichtbarer Spannungsbogen aufgebaut.
Wir wussten beide, dass keiner so leicht nachgeben würde. Doch dann wurde ich erneut überrascht.
Er schrie mich an.
Es war kein normaler Schrei. Es kam mir vor wie ein künstlicher Laut, der aus seinem weit geöffneten Mund drang. Es konnte auch eine gewisse Angst dahinterstecken, aber das alles war für mich nicht mehr wichtig, denn auf meiner Brust - und zwar dort, wo mein Kreuz hing spürte ich den ziehenden Schmerz.
Ich wusste Bescheid.
Aber auch er, und er reagierte so schnell, dass er mich überraschte.
Wieder gellte mir sein Ruf entgegen, der sich anhörte, als würden jede Menge Zikaden ihre Wut hinausschreien.
Dann rannte er weg. Aus dem Stand sofort volles Tempo. Er hetzte an mir vorbei und nahm nicht die Richtung zum See, ich konnte ihm nur nachschauen und sah, wie er mit den Armen um sich schlug und seine Beine bei jedem Schritt irgendwie zu den Seiten schleuderte, wobei er sich trotzdem hielt und nicht fiel.
Ich nahm die Verfolgung nicht auf. Für mich stand nur fest, dass die Urlaubszeit ab jetzt vorbei war, denn mein Kreuz hatte sich nicht grundlos gemeldet.
Ich fragte mich, ob ich enttäuscht war.
Nicht wirklich, denn ich dachte in diesem Moment wieder mal an mein Schicksal und das schien nun mal keine richtige Ruhe für mich vorgesehen zu haben…
***
Ein leises Stöhnen riss mich aus meinen Gedanken.
Der junge Mann, der noch immer auf dem Boden saß, hatte es ausgestoßen. Das war sicherlich nicht nur gespielt, denn da brauchte ich nur in sein blutendes Gesicht zu schauen. Er hatte sich die Wunden nicht selbst zugefügt, das war der andere gewesen, den ich leider nicht hatte festhalten können. Aber ich hatte nicht vergessen, was da gesprochen worden war.
Diese blonde Erscheinung hatte sich über den normalen Menschen gestellt und gewissermaßen den Übermenschen herausgekehrt.
Und dann war da noch die Warnung durch mein Kreuz. Sie hatte mir klargemacht, dass ich es mit einem Todfeind zu tun hatte.
Selbst in der Idylle des Tegernsees hatte ich davor keine Ruhe, und das war nicht eben etwas, was mich freute.
Ich schaute den jungen Mann an. Er hatte inzwischen ein Taschentuch hervorgeholt und tupfte damit sein Gesicht ab. Das weiße Tuch bekam schnell rote Flecken. Das ganze Blut konnte er nicht entfernen. Es musste abgewaschen werden.
»Kommen Sie hoch, ich helfe Ihnen.«
Er schaute mich an. »Nein.«
»Sie sind verletzt. Spielen Sie hier bitte nicht den Helden.«
»Geh!«, stieß er hervor. Er winkte mit der rechten Hand. »Hau einfach ab. Das geht dich nichts an.«
Und ob mich das etwas anging. Da brauchte ich nur an die Warnung meines Kreuzes zu denken. Hier lief etwas ab, an dem ich nicht achtlos vorbeigehen konnte. Das war eben mein Schicksal.
Ich streckte dem jungen Mann meine Hand entgegen. Es sah so aus, als wollte er sie zur Seite schlagen, dann überlegte er es sich und fasste zu.
Ich zog ihn hoch.
Er hatte schwarzes Haar, das in der Mitte gescheitelt war. Wo sich das Blut nicht ausgebreitet hatte, war sein Gesicht recht blass.
Er stand jetzt vor mir.
»Hinter der Hecke beginnt der Biergarten«, sagte ich. »Dort gehen wir beide
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