1607 - Totenlied der Diva
sage Ihnen allerdings, dass alles eine Ansichtssache ist. Jeder geht seiner Arbeit nach, und jeder Mensch sollte seinem Land dienen. Das habe ich mir an die Fahne geheftet.«
»Und Ihre Arbeit ist das Töten?«
»So können Sie es sehen.«
Er zwinkerte Suko beinahe verschwörerisch zu. »Wenn man seinem Land dient, dann ist man voll dabei und versucht, Schaden von ihm abzuwenden. Und genau das habe ich mir zur Aufgabe gemacht.«
»Indem Sie morden«, sagte ich. Lord Lipton lehnte sich zurück und lachte leise. Sein blasierter Gesichtsausdruck wurde jetzt durch ein Muster aus Falten verändert.
»Ich bitte Sie, meine Herren. Einer wie ich schützt die Allgemeinheit vor ihren Feinden. Das Empire ist riesig, aber es wird auch bedroht. Man muss die Augen offen halten, denn nur dann erkennt man die Feinde. Und wenn man sie erkannt hat, wird man zuschlagen müssen, um Schlimmeres zu verhindern. So sehe ich meine Aufgabe.«
»Sie schaffen also die Feinde des Empire aus dem Weg!«, stellte ich fest.
»Soweit mir das möglich ist.« Die nächste Frage hatte ich mir zuvor genau überlegt.
»Wie kommt es dann, dass die Menschen hier in der Nähe Angst vor Ihnen haben? Sind es alles Feinde des Landes?«
»Das möchte ich so nicht sagen.«
»Gut. Und warum müssen die Leute Angst vor Ihnen haben, Lord Lipton? Töten Sie etwa nicht nur die Feinde des Empire, sondern auch Personen, die nichts damit zu tun haben?«
Lord Lipton hob eine Hand.
»Gut gefolgert, Mr. Sinclair, sehr gut. Ja, ich sehe schon, dass Sie und Ihr Kollege eine Herausforderung für mich sind. Aber ich sage Ihnen, dass jeder Mensch ein Privatleben hat. Das kennen Sie ja von sich. Auch ich mache da keine Ausnahme.« Er lächelte breit. »Sie sehen, dass ich…«
»Moment mal«, unterbrach ich ihn. »Soll das heißen, dass Sie aus privaten Gründen Menschen töten? Nur weil Sie sich beruflich daran gewöhnt haben?«
Der Lord behielt sein Lächeln bei.
»Es kommt eben manchmal über mich. Dabei will ich das gar nicht, aber ich möchte, dass mir die Menschen gehorchen. Wenn sie sich weigern, haben sie Pech gehabt. Dann muss ich eben so handeln. Ich kann Ihnen allerdings versichern, dass es Menschen sind, deren Verschwinden kaum auffällt.«
Bei mir zog sich der Magen zusammen. Ich behielt trotzdem die Ruhe und fragte: »Dürfen wir wissen, um welche Personen es sich dabei genau handelt? Oder schlagen Sie wahllos zu?«
»Nein, Gentlemen, das auf keinen Fall.«
»Und wie sollen wir das verstehen?«
»Ich suche den süßen Vogel Jugend. Ich will ihn haben, immer besitzen, und ich hole ihn mir.«
»Frauen?«, flüsterte Suko.
»Sie haben es erfasst«, lobte der Lord. »Es sind Frauen. Junge Frauen. Ich mag ihr festes Fleisch. Ihre wunderbare Haut. Dann muss ich sie mir einfach holen und später für immer behalten, denn das soll nicht an die Öffentlichkeit dringen.«
Mir steckte schon ein Kloß in der Kehle, als ich sagte: »Sie bringen diese Menschen also um?«
Er wiegte den Kopf. »So können Sie es ausdrücken.« Locker hob er die Schultern. »Wie gesagt, man vermisst sie nicht. Es gibt Gerüchte, das ist alles. Sie glauben gar nicht, welche Perlen sich manchmal in der Unterschicht finden lassen. Wenn ich sie mit in mein Haus genommen habe, dann staunen sie, und ich sorge dafür, dass es ihnen eine Weile lang gut geht, bis eben zu dem Zeitpunkt, wo ich sie nicht mehr brauche…«
Er sprach noch weiter. Ich hörte auch seine Stimme, aber nicht mehr genau, was er sagte, denn das Blut war mir in den Kopf gestiegen und rauschte in meinen Ohren.
In diesen Augenblicken sah ich nicht mehr so klar wie sonst, und auch Suko war neben mir in seinem Sessel zu einer Statue geworden und hatte offenbar Schwierigkeiten, die Sprache wiederzufinden.
»Was machen Sie mit den Leichen, Lord Lipton?«, flüsterte er zischend.
»Die Menschen hier in der Umgebung glauben schon, dass Sie so etwas wie ein Kannibale sind.«
»Also bitte. Ich gebe zu, dass es so etwas gibt, aber nicht bei mir.«
»Das beantwortet nicht meine Frage.«
Er winkte ab und kam wieder auf sein Thema zu sprechen. »Ich sagte Ihnen bereits, dass niemand die Frauen vermisst. Ich habe hungrige Hunde, verstehen Sie, und…«
»Hören Sie auf, verdammt!«, schrie ich ihn an.
Lipton hob vor Schreck seine Arme. »Was wollen Sie? Ich habe Ihnen nur Ihre Fragen beantwortet.«
Ich nickte schwer. »Okay, das haben Sie. Das haben Sie sogar mit brutaler Offenheit, Lord Lipton.«
Ich hatte Mühe, die
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