1634 - Strigen-Terror
Alvin Bergholm lächelte so charmant, dass Maxine Wells beinahe zugestimmt hätte. So aber hob sie bedauernd die Schultern und sagte, während sie ebenfalls lächelte: »Es tut mir leid, Kollege, aber ich muss leider auf mein Zimmer. Ich möchte einfach noch etwas arbeiten.«
»Schade.« Ehrliches Bedauern lag in der Stimme des Mannes. Das passte Maxine auch nicht so recht, und sie wollte ihn nicht so ganz ohne Hoffnung gehen lassen.
»Morgen ist auch noch ein Tag, an dem wir uns sehen. Dann können wir noch mal über den Drink reden.«
»Gut.« Der Mann hob den rechten Zeigefinger. »Ich komme darauf zurück.«
»Das dürfen Sie. Gute Nacht.«
»Ja, Ihnen auch.«
Ein letztes Winken, und Maxine bewegte sich auf den Fahrstuhl zu. Sie musste ihn nicht holen, er wartete bereits in der Lobby. So stieg sie ein, um sich hoch in die vierte Etage bringen zu lassen, in der ihr Doppelzimmer lag.
Maxine war nicht zum Vergnügen nach Stockholm geflogen. In der schwedischen Hauptstadt fand ein internationaler Kongress der Tierärzte statt, und dem wollte sie gern beiwohnen. Ihre Praxis in Dundee hatte sie für vier Tage geschlossen, um sich mit den Kollegen aus zahlreichen Ländern auszutauschen und neue Erfahrungen zu sammeln. Hin und wieder fühlte sie sich in ihrer Praxis ein wenig isoliert. Da tat es mal gut, den eigenen Garten zu verlassen und sich woanders umzuschauen.
Allerdings gab es bei Maxine ein Problem. Das lag nicht an ihrer Zeit, die konnte sie sich nehmen. Das Problem hatte einen Namen, und der lautete Carlotta.
Sie war das junge Mädchen, das bei ihr lebte und ihr in der Praxis zur Hand ging.
Aber das war auch nicht das Problem. Carlotta selbst war es. Sie sah zwar normal aus, und wer sie von vorn anschaute, der hätte nichts Auffälliges an ihr feststellen können. Doch wer ihren Rücken sah, der würde anders darüber denken.
Da war Carlotta nicht normal, denn aus ihren Schultern hervor wuchsen zwei Flügel.
Carlotta war ein Vogelmädchen, und dank ihrer ungewöhnlichen Attribute war sie in der Lage, sich einen Menschheitstraum zu erfüllen.
Sie konnte fliegen.
Nur wenige Vertraute wussten von dieser Eigenschaft, und Maxine konnte ihren Schützling deshalb auf keinen Fall allein in der Praxis zurücklassen. So hatte sie Carlotta nach Stockholm mitgenommen und auch die Kontrollen am Flughafen überstanden, denn Carlotta hatte ihre Flügel dicht angelegt und trug zudem einen langen Mantel. Außerdem hatte sie nichts bei sich, was in einer Kontrolle hätte auffallen können. Es war nur zu hoffen, dass der Rückflug ebenso gut klappte.
Maxine und Carlotta hatten die genauen Verhaltensregeln abgesprochen. Die Ärztin wusste auch, dass sie ihren Schützling nicht die ganze Zeit über im Zimmer einsperren konnte. Wenn Carlotta fliegen wollte, dann sollte sie es tun, aber nicht am helllichten Tag, sondern in der Dunkelheit.
Daran hatte sich Carlotta auch gehalten. Sie hatte in den ersten beiden Nächten ihre Ausflüge durchgezogen, und es war nichts passiert.
Carlotta war stets glücklich zurückgekehrt und hatte von ihren Ausflügen geschwärmt. Dundee und Stockholm lagen zwar beide am Meer, aber sie waren schon allein von der Umgebung her nicht miteinander zu vergleichen. So viele Schären, wie in der Umgebung der schwedischen Hauptstadt zu bewundern waren, gab es an der Wasserseite der Stadt in Schottland nicht.
Die Tierärztin freute sich jedenfalls, dass Carlotta ihren Spaß hatte, und sie bereute es auch nicht, sie mitgenommen zu haben. In Dundee hatte sie zwar auch ihre Bewegungsfreiheit, aber das hier war doch mal etwas Neues.
Es war mittlerweile dunkel geworden, als Maxine ihre Zimmertür auf schloss. Auf die Uhr hatte sie lange nicht mehr geschaut, das tat sie jetzt und drückte dabei die Tür nach innen.
Sie erschrak schon leicht, dass es bereits so spät geworden war. In knapp zehn Minuten war die Tageswende erreicht, und Stockholm lag nicht so weit nördlich, dass es hier in der Nacht nicht dunkel geworden wäre.
Carlotta hätte längst zurück sein müssen. So war es zumindest abgemacht.
Mitternacht hatten sie vereinbart. Bisher war Carlotta immer früher zurückgekehrt.
Das Zimmer war sehr geräumig. Durch das offen stehende Fenster blies der Wind und wehte durch den Vorflur, in dem sich die Tierärztin aufhielt und ihre Stirn in Falten gelegt hatte.
Es hatte seinen Grund, denn sie dachte an Carlotta. Diesmal war sie noch nicht zurück. Wäre das der Fall gewesen, hätte sie das
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