1655 - Die »Heiligen« von London
Kopf entlang lief. Man hatte sich an seinem Gesicht nicht zu schaffen gemacht. Es zeigte noch im Tod jenen grauenhaften Ausdruck des Schreckens, den dieser Mensch in den letzten Sekunden seines Lebens gespürt haben musste. Wunden waren in Höhe seiner Kehle zu sehen und auch am Körper. Aus ihnen war das Blut gequollen, das sich seinen Weg nach unten gebahnt und sich nun als Lache unter den nackten Füßen ausgebreitet hatte. Ich hatte schon einiges an schlimmen und grausamen Dingen in meinem Leben gesehen. Das hier gehörte in die oberste Kategorie an Grauenhaftem. Ich spürte das Zittern in meinen Knien, mein Mund war trocken geworden und ich wünschte mir, dass dieses Bild verschwinden würde.
Es blieb bestehen!
Aber wer hatte das getan?
Eine leichte Antwort. Der Heilige oder einer, der sich so nannte, tatsächlich aber nichts anderes als ein perverser Mörder war.
Es dauerte eine Zeit, bis ich wieder so dachte wie ein Polizist. Ich ging einen kleinen Schritt nach vorn und stoppte vor dem schmalen Metalltisch, auf dem die Kleidung lag. Ich ging davon aus, dass sie dem Toten gehörte. Der Mörder hatte sie ihm ausgezogen. Ich hatte alles gesehen, was ich hatte sehen wollen. Der erste Schock war vorbei. Allmählich kehrte die Normalität bei mir zurück, auch wenn mich der Gestank noch immer umgab.
Die Kleidung war sogar recht ordentlich auf dem Tisch zusammengelegt worden. Ich ließ den Schein der Lampe darüber gleiten und hütete mich davor, den Strahl auf das Gesicht des Toten zu richten. Ich wollte diesen Ausdruck nicht mehr sehen und auch nicht die Zunge, die sich zwischen den Lippen ins Freie gedrängt hatte. Etwas Helles fiel mir auf. Ich leuchtete genauer hin und sah ein Stück Papier unter einem Hosenbein hervorschauen. Mit spitzen Fingern fasste ich es an, um nur keine Spuren zu verwischen. Danach drapierte ich es auf die dunkle Jacke mit der Fellfütterung und leuchtete es an.
Für mich stand fest, dass es eine Nachricht war. In Blockbuchstaben hatte jemand einen Text geschrieben. Mit Flüsterstimme las ich ihn. »Paul Sanders war ein Schwein. Ein Mensch, der Kinder missbraucht hat und dem niemand etwas nachweisen wollte oder konnte. Aber er hat nicht mit uns gerechnet. Wir haben ihn so bestraft, wie es sein musste. Die Heiligen.«
Ich war nicht mal überrascht, als ich diese Nachricht las. So etwas Ähnliches hatte ich mir schon gedacht, denn darauf hatte auch der Anruf hingewiesen. Es waren also Bestrafer oder Rächer unterwegs, die sich die Menschen holten, denen man bisher nichts hatte nachweisen können oder die noch gar nicht in Verdacht geraten waren. Als ich ausatmete, hörte ich mich stöhnen, und in derselben Sekunde meldete sich mein Handy.
Damit hatte ich nicht gerechnet und zuckte dementsprechend zusammen. Ich meldete mich trotzdem. Das heißt, man ließ mich dazu nicht kommen, denn der Anrufer war schneller.
»Na, hast du das Schwein gefunden, Geisterjäger?«
»Ja, das habe ich.«
»Und?«
Mir fiel rasch eine Antwort ein. »Gut, er mag ein Schwein gewesen sein, wie Sie es ausgedrückt haben. Das war noch kein Grund, ihn zu töten. Verstehen Sie?«
»Oooh warum so sensibel, Geisterjäger? Sei froh, dass wir dir die Arbeit abnehmen.«
»Welche Arbeit? Das Morden?«
»Nein, das Bestrafen. Als Mord sehen wir es nicht. Wir Heilige bestrafen nur. Er ist der Anfang, aber wir machen weiter, darauf kannst du dich verlassen, und wir stehen unter einem besonderen Schutz. Denk immer daran.«
»Wer beschützt euch denn? Der Teufel?«
Ich hörte ein Lachen. »Wenn du meinst? Wir nehmen auch ihn als Schutz. Das ist uns egal, aber es gibt andere, die auf uns aufpassen. Daran solltest du immer denken.«
Mehr wurde nicht gesagt. Das Gespräch war vorbei. Auch auf dem Display war keine Nummer abzulesen gewesen. Erst jetzt kam ich wieder richtig zu mir, und so nahm ich auch wieder den Gestank wahr.
Es war nicht zum Aushalten. Ich musste hier raus. Ich dachte auch nicht mehr daran, das normale Licht einzuschalten, wie man mir geraten hatte. Ich wollte nur weg. Ich schob mich durch die Tür und wusste, wie verzerrt mein Gesicht war. Erst jetzt spürte ich die Nachwirkungen der fürchterlichen Entdeckung und lehnte mich gegen die Wand. Hier gab es zwar auch keine frische Luft, aber ich konnte flach atmen. Ich wusste, wie es weiterging. Die Kollegen mussten her. Die Spurensicherung würde jede Menge Arbeit bekommen. Aber auch ich hatte ein Problem. Meine nächste Aufgabe stand fest. Ich würde
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