1659 - Die Totengöttin
kam ein ungewöhnlicher Gedanke. Er konnte sich vorstellen, dass diese seltsame Frau eher auf den Friedhof passte als in die normale Welt. Nur lagen auf dem Gelände die Toten, aber die Frau war nicht tot gewesen, obwohl sie nicht geatmet hatte. Aber so genau wusste er das nicht.
Goldman wusste auch nicht, ob er die Begegnung für sich behalten oder mit seinem Freund, einem Polizisten, darüber sprechen sollte. Darüber musste er noch genauer nachdenken.
Das Ende der Mauer war bald erreicht und damit auch das Ende der Straße. Adam war kein besonders ängstlicher Mensch, in diesem Fall war er jedoch froh, eine Gegend erreicht zu haben, in der auch nachts noch Leben war, und seien es nur die Autos, die über die Fahrbahn rollten. Er wollte die letzten Meter schneller zurücklegen, da er die Gegend plötzlich nicht mehr mochte. Er arbeitete sehr oft auf dem Friedhof, aber so etwas war ihm noch nicht widerfahren. Jetzt schnell gehen, rechts abbiegen, noch mal in die nächste Nebenstraße, dann war er so gut wie zu Hause.
Da hörte er das Geräusch!
Es passte nicht in die Stille. Es war fremd, aber er hatte es vor Kurzem schon mal vernommen.
Kein Gesang diesmal, sondern das Summen, das diese seltsame Frau zuletzt von sich gegeben hatte.
Er ging langsamer. Dann drehte er den Kopf und schaute nach links, wo hinter der Mauer der Friedhof lag. Und von dort erreichte ihn das Summen. Er trat dicht an das Gitter heran und sah das Eis auf dem Metall als graue Schicht. Die Lücken zwischen den Stäben waren groß genug, um Teile des Friedhofs überblicken zu können. Von dort erreichte ihn tatsächlich das Geräusch, wobei er im ersten Moment nichts sah. Nur die Reihe der Grabsteine, die auf dem neuen Teil des Friedhofs wie starre Wächter standen.
Und dann weiteten sich seine Augen. Er konnte nicht fassen, was ihm da geboten wurde.
Über den Gräbern schwebte ein Mensch. Eine Frau. Und es war die Person, die er vor der Mauer in der Kälte hatte sitzen sehen…
***
Adam Goldman stand auf der Stelle und wusste nicht, ob er glauben sollte, was er sah. Über dem Gräberfeld schwebte ein fliegender Mensch!
Das war unmöglich. Fliegende Menschen gab es nicht. Höchstens im Märchen. Er dachte auch an Engel, aber das nur für einen Moment, denn die Frau änderte ihre Richtung und kam näher.
Adam Goldman konnte es noch immer nicht fassen. Sein Gesicht zeigte eine Starre, die zu einem Toten gepasst hätte. Er sah die Frau, wie sie ihre Arme bewegte. Das war ein Auf und Ab, aber er sah noch mehr.
Sie hatte nicht nur die normalen Arme, sondern so etwas wie Schwimmhäute an den Schultern und auf dem Rücken. Es waren keine Flügel, wie man sie auf Engelsdarstellungen sah. Bei dieser Person sah es so aus, als hätte man ein breites Tuch über Schultern und den Rücken gespannt, das an seinen Enden mit den Händen verbunden war, sodass es bewegt werden konnte. Und noch etwas sah er. Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte, aber es gab keinen Zweifel.
Die Frau war nackt!
Sie flog über die Gräber hinweg. Ihr schwarzes Haar wehte im Wind wie eine Fahne über ihren nackten Rücken hinweg.
Sie fror auch nicht, obwohl sie keinen Faden am Leib trug. So schwebte sie fast provozierend langsam über den Gräbern und hielt den Blick auf den am Zaun wartenden Adam Goldman gerichtet. Es sah so aus, als wollte sie ihn locken, über das Hindernis zu klettern und auf den Friedhof zu kommen, damit er ihr Gesellschaft leistete.
Genau das tat Adam Goldman nicht. Für kein Geld in der Welt wäre er auf die andere Seite gegangen. Was dort geschah, das war ihm doch zu unheimlich. Die Gestalt war zwar recht weit von ihm entfernt, dennoch sah er, dass sich die Lippen zu einem lockenden Lächeln verzogen hatten. Auf diese Einladung konnte er gut und gern verzichten.
Dann war sie vorbei. Sie drehte ab und flog zur anderen Seite des Friedhofs. Ob sie dort landete, sah der Gärtner nicht, und es interessierte ihn im Moment auch nicht. Er stand auf der Stelle wie vor den Kopf geschlagen und konnte nicht glauben, was er da gesehen hatte.
Erst nach gut zwei Minuten bewegte er sich wieder. Das war auch nötig, da er merkte, dass ihm die Kälte in die Knochen kroch und er sich wieder bewegen musste. Über seine Lippen drang zuerst ein Stöhnen. Es folgte ein Lachen, das die Stille zerschnitt. Trotz der Kälte ließ er sich Zeit, um einen allerletzten Blick über den Friedhof zu werfen. Dann wurde es Zeit, dass er nach Hause kam. Auf der Reststrecke
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