1659 - Die Totengöttin
Abrupt blieb er stehen und flüsterte nur ein Wort: »Scheiße!«
Jemand hatte sich einen Spaß gemacht und das Rad mit Wasser übergössen. Es gab keine Stelle, die nicht von Eis bedeckt worden wäre. Dicke Tropfen waren zu sehen, aber auch graue Zapfen, die von der Lenkstange herabhingen. Die Kette und ihr Schutz waren völlig vereist, und wer mit diesem Bike fahren wollte, der musste schon ein Zauberer sein, und das war Adam Goldman beileibe nicht. Er ärgerte sich nicht nur darüber, dass jemand sein Rad in ein winterliches Kunstwerk verwandelt hatte, die Schuld lag teilweise auch an ihm. Er hätte früher Feierabend machen sollen, aber er hatte noch einen Kunden getroffen, und so war man ins Plaudern gekommen, als der Kunde noch einen besonderen Grabschmuck bestellt hatte. Mit dem Fahren war nichts mehr. Er musste den Weg zu Fuß gehen. Bei der Kälte kein Vergnügen, aber ein Auto stand ihm nicht zur Verfügung. Zumindest nicht hier. Der Wagen stand in der Garage neben seinem Haus. Bis er es erreicht hatte, musste er etwas mehr als zwei Kilometer zurücklegen..
Trotzdem untersuchte Goldman sein Bike noch einmal. Da war nichts zu machen. Das Ding musste erst aufgetaut werden.
Er überlegte nicht mehr lange und machte sich auf den Weg. Ihm gingen zahlreiche Gedanken durch den Kopf, die sich zumeist um ihn selbst drehten. Er fluchte und vergrub die Hände tief in seine Manteltaschen, obwohl er Handschuhe trug. Bei dieser Kälte schien alles eingefroren zu sein. Nicht nur die Welt um ihn herum, dazu zählten auch Mensch und Tier. Die Vierbeiner verkrochen sich unter dichtem Laub und in Höhlen, während die Menschen in den Häusern blieben und sich an den Heizungen wärmten oder sich in dicke Decken hüllten.
Der Friedhof war recht groß. Goldman musste schon eine gewisse Zeit an der Mauer entlanggehen, die aus zwei Teilen bestand. Zum einen das Mauerwerk, zum anderen die Gitterstäbe, die darin eingelassen waren und aussahen wie Lanzen. Seine Gärtnerei gehörte zu den Betrieben, die ihren Unterhalt mit der Pflege von Gräbern verdienten. Das warf zwar nicht viel ab, aber man konnte davon leben. Außerdem verkaufte er Gestecke und Kränze, das brachte auch Geld in die Kasse. Die Stille blieb. Die schmale Straße, die sich links von ihm hinzog, wurde in der Nacht und besonders im Winter kaum befahren.
Noch immer bewegte er sich an der Friedhofsmauer entlang, als er plötzlich etwas hörte. Es war ein seltsames Geräusch, das die Stille unterbrach, und Goldman blieb stehen.
Er glaubte bestimmt nicht an Geister, aber was er da zu hören bekam, das erinnerte ihn schon an einen geisterhaften Gesang.
Adam Goldman lauschte. Er konzentrierte sich auf nichts anderes und stellte fest, dass es keine Geisterstimme war, die da sang, sondern die eines Menschen - einer Frau, wenn er sich nicht irrte.
Und das in der Dunkelheit und dieser Kälte. Sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass es nicht stimmen konnte. Das ging nicht mit normalen Dingen zu. Da war etwas faul. Oder auch nur seltsam.
So genau konnte er es nicht einschätzen. Dafür war seine Neugierde erwacht. Er wollte unbedingt herausfinden, wer da bei dieser Kälte im Freien hockte und sang. Möglicherweise konnte er helfen, denn bei diesen Temperaturen waren schon Menschen erfroren. Darüber hatte er in den Zeitungen gelesen.
Goldman setzte, seinen Weg fort. Er war jetzt noch aufmerksamer. Irgendwann musste er die Gestalt doch zu Gesicht bekommen. Seiner Meinung nach saß sie nahe der Mauer.
Wenige Schritte später sah er etwas. Jemand saß auf dem eiskalten Boden und hatte seinen Rücken gegen die Mauer gedrückt. Und dieser Jemand war es auch, der ihn mit seinem Gesang begrüßte.
Goldman begriff es nicht. Ihm war zwar nicht unheimlich zumute, aber dieser Gesang passte einfach nicht in diese Umgebung, besonders nicht bei den eisigen Temperaturen, die zurzeit herrschten.
Er schlich jetzt weiter. Die Nacht war sternenklar, und so war es ihm möglich zu erkennen, dass es eine Frau war, die vor der Mauer saß. Wobei er sich das schon gedacht hatte.
Goldman ging die letzten paar Meter, bevor er anhielt. Er stellte sich dicht vor die Frau, die ihn einfach sehen musste, wenn sie nicht blind war.
Es geschah zunächst nichts. Sie hielt den Kopf gesenkt, sang weiter, diesmal allerdings leiser, dann verwandelte sich der Gesang in ein Summen, das schließlich ganz verstummte. Es wurde wieder normal still. Nur konnte sich der Gärtner damit nicht anfreunden,
Weitere Kostenlose Bücher