1666 - Der weite Horizont
so den Bestand ihres Stammes sicherten.
Weshalb ging das?
Dazu ihre Sprache. Alle Stämme hatten eine andere Sprache, aber überall tauchten bestimmte Wörter auf. Und was hatte ihm der Zwerg in seinem Pilztraum gesagt? „Die Sprache ist der Zauberschlüssel, Boccu!"
Der Schlüssel wozu? Um zu verstehen, wer er eigentlich war?
Hennas Stimme lenkte ihn von den Gedanken ab, die ihm blitzschnell wieder durch den Kopf geschossen waren. Sie sagte gerade: „Schön, Boccu. Versuchen wir es also weiter. Wir haben auf eurer Welt etwas festgestellt, das wir nicht verstehen. Wir nennen es das Phänomen des kurzen Horizonts.
So groß wie euer Planet...", sie verbesserte sich, „... eure Welt ist, müßte man auf ihr mindestens fünfmal weiter blicken können, als es hier der Fall ist. Das kann dir natürlich nicht bewußt sein, denn du hast keine Vergleiche und kennst es nur so. Aber was genau war das mit diesem Weiten Land?"
Er blickte sie an. Sie kannte die Legende nicht. Trotzdem war sie sofort ganz versessen darauf, mehr darüber zu erfahren.
Durfte er ihr sagen, was er wußte? Es war entsetzlich wenig, aber dennoch. Beging er nicht vielleicht einen Verrat - an wem auch immer -, wenn er ihr erklärte, daß man im Weiten Land grenzenlos weit sehen konnte, fast in die Ewigkeit hinein?
Das Weitsehen schien für Henna überhaupt sehr wichtig zu sein. Boccu sah immer noch nicht viel Sinn in ihren Worten und Fragen, aber eines begriff er: Diese Fremden waren viel schneller als die Stämme, und vielleicht auch klüger. Sicher konnten sie Dinge tun, die ein Nasran nie fertiggebracht hätte.
Das eröffnete ihm eventuell ganz neue Möglichkeiten. „Wenn ich euch sage, was ich weiß", fragte er vorsichtig, „nehmt ihr mich dann mit ins Weite Land - falls ihr wirklich dorthin wollt?"
Henna beriet sich anscheinend kurz mit ihren Begleitern. Dann drehte sie sich wieder zu ihm und drückte seine Hand. „Ich glaube, das kann ich dir versprechen", sagte sie.
*
Boccu hatte mit den Fremden verabredet, daß sie ihn am nächsten Tag an der gleichen Stelle wiedertrafen und dann mitnahmen. Er hatte ihnen alles über das Weite Land erzählt, was er selbst wußte, und dann noch gewartet, bis sie gingen. Es hatte sich gelohnt.
Denn Boccu hatte gesehen, wie sie halb um den Hügel herumgegangen und dann in ein eisernes Gefährt gestiegen waren, das rundherum geschlossen war und sie senkrecht in den Himmel hinaufgetragen hatte.
Sie konnten fliegen wie Attan, der Geistvogel!
Waren sie also doch Götter?
Boccu ahnte, daß er die Antwort so schnell nicht erfahren würde. Und bevor er sein Versprechen überhaupt halten konnte, die Fremden zu begleiten, hatte er eine sehr unangenehme Pflicht zu erfüllen.
Er mußte den Popaluu beibringen, daß er sie jetzt verlassen würde. Für die nächste Generation der Spindeldürren hatte er unter Aufbietung all seiner Kräfte gesorgt. Unter den Neugeborenen würden sich ganz bestimmt wieder ein, zwei oder drei Neutren befinden. Das war immer so gewesen, irgendein Geschick sorgte dafür. Sonst wären die Stämme längst ausgestorben.
Boccu beschloß, diese Eröffnung bis zum nächsten Morgen hinauszuschieben. Daß sie es ihm nicht leichtmachen würden, merkte er schon allein daran, daß sie ihm auf halbem Weg entgegenkamen, als er in der Abenddämmerung zum Dorf zurückging.
Sie hingen an ihm, dem doppelt so dicken Nasran. Sie vergötterten ihn, weil er ihr einziger Dritter war - und noch dazu „Derderalle-Grenzenüberschritt".
Was sollte er ihnen morgen sagen?
Als sie in ihrer umzäunten Grube gemeinsam zu Abend gegessen hatten und die anderen schliefen, saß Boccu noch lange in seiner Hütte und rief verzweifelt nach Attan. Ähnlich wie im Talkessel der Nasran, so wohnte er hier allein und nützte das aus, um magische Gegenstände um sich herum aufzustellen, die er in den letzten Wochen selbst geschnitzt hatte. Er berührte sie der Reihe nach mit einem Stock und murmelte dazu magische Worte.
Er versank ganz in sich selbst, und endlich senkte sich der mächtige Schatten seines Geistvogels auf ihn herab, und er hörte die Stimme, die lautlos seinen Kopf ausfüllte.
Was nun, Boccu? fragte der Geistvogel - als ob er jetzt Fragen an Boccu zu stellen gehabt hätte! Was erwartest du, daß ich dir weise? „Den Weg zum Weiten Land, wie du es versprochen hast", flüsterte der Nasran. „Aber zuerst sage mir, wie ich den Popaluu entkommen kann."
Er bekam keine Antwort und seufzte tief.
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