174 - Die Katastrophe von Basajaun
erinnern kann, nichts anderes gesehen als Soldaten und Krieg."
Ricco erzählte, wie viele Spielkameraden seiner Kinderzeit er durch feindliche Kanonenkugeln, die in die Irre flogen, oder durch ähnliche Umstände verloren hatte.
„Sie sind jetzt alle im Himmel", sagte er. „Aber ich glaube nicht, daß der Herrgott katholisch oder evangelisch ist. Es sind nur die Menschen, die so auf der Erde hausen."
Coco umarmte Ricco gerührt. Der Junge kannte nicht einmal seinen richtigen Nachnamen. Er nannte sich nach dem Dorf Breitenfeld, denn dort war er geboren. Es war dann für ihn Zeit zu gehen, denn er sollte als der neue Fahnenträger vereidigt werden und damit eine wichtige Aufgabe übernehmen.
Coco sah zu, wie Hauptmann Czersky persönlich Ricco die Regimentsfahne in die Hand drückte. Czersky wickelte die lange Fahne einmal um Ricco. Das klingende Spiel der Regimentsmusikanten schwieg.
„Ich übergebe Euch, Ricco Breitenfeld", sprach Czersky ernst und sogar würdig, „die Fahne als eine Braut und leibliche Tochter. Aus der rechten Hand, so sie Euch abgeschossen wird, sollt Ihr sie in die Linke nehmen, und wo Euch beide Arme abgeschossen oder abgehauen werden, sollt ihr sie in den Mund nehmen. Ist keine Hilfe noch Rettung da, so verwickelt Euch drein, um darin zu sterben als ein ehrlicher Mann."
„So will ich es halten, Herr Hauptmann!" rief Ricco. „Ich schwöre es."
Coco war tief erschüttert, während Ricco Kunststücke mit der Fahne vorführte, die er lange einstudiert hatte. Die Landsknechte spendeten ihm Beifall. Die Musikanten pfiffen und trommelten, und zu ihrem Spiel würde Ricco Breitenfeld von nun an dem Regiment mit seiner Fahne vorangehen, durch Pulverdampf, Bleihagel, Not und Tod, Hieb und Stich ausgesetzt, nur mit seiner Fahne, ein Sinnbild der Sinnlosigkeit dieses Krieges, bis er irgendwann unter dem zerfetzten und blutgetränkten Tuch lag und sein Leben verröchelte.
Riccos Gesicht glühte vor Begeisterung.
„Ist das nicht wundervoll, Coco?" rief er und schwenkte stolz seine Fahne.
Coco schnürte es die Kehle zu. Am liebsten hätte sie diesem Kind zugerufen, doch wegzulaufen, sich irgendwo zu verbergen vor dem Wüten des Krieges. Aber wohin sollte Ricco gehen? Der Krieg wütete überall.
Die Stunde des Abschieds schlug. Coco verließ das Lager mit einem Passierschein Czerskys und stahl sich in den Wald. Dem Obristen Graf Stoltzen-Hagenau hatte Coco am Nachmittag eine Botschaft geschickt, daß sie todkrank darniederliege, vielleicht sogar eine ansteckende Krankheit habe. Das hatte ihn abgeschreckt, und er hatte ihr mitgeteilt, er wünsche ihr gute Besserung, und sie möge nur aus seiner Nähe bleiben, bis die Besserung zweifelsfrei eingetreten sei.
Coco hatte erwogen, Ricco in ihre Zeit mitzunehmen. Doch erstens wußte sie nicht, ob das überhaupt möglich war. Und zweitens war er ein Kind seiner Zeit so wie sie eines der ihren.
Coco suchte sich eine Lichtung unweit der Stelle, wo sie gelandet war. Wenn sie ohne Armband Merlins den Zeitschacht betrat, würde es sie sonstwohin schleudern.
Sie zog einen scharlachroten Kreis, der schon nach zehn Sekunden nicht mehr zu sehen war. Dann malte sie, alles mit den Ingredienzien, die sie sich von einer üblen alten Vettel im Lager besorgt hatte, vier Runen: die Tyr-Rune, die Man-Rune, die Odalund auch die Hag-Al-Rune. Sie malte sich das Zeichen des Silbers, ein magisches Symbol für Argentum, auf die Stirn.
Dann hockte sich Coco auf die Absätze, legte die Hände dachartig zusammen und murmelte die Beschwörung. Nur der Halbmond und wenige Sterne beschienen die Szene im nächtlichen Wald. „Spiritus dei ferabato super aqua fiat verbum halitus mens et in perabo spiritus aris huius refraera- boequos solis. Voluntante cordis mei et cogitiantone. - Merlin, ich rufe dich!"
Coco saß am Rand des unsichtbaren magischen Kreises. Mitten im Kreis tauchte nach Sekunden der Spannung eine grünliche Flamme auf, die flackerte und emporwuchs. In ihr erschien das Gesicht Merlins, eines weißbärtigen alten Mannes mit Augen, die mehr gesehen hatten als je ein Mensch vor ihm.
„Ich grüße dich, meine Tochter", sagte Merlin mit sonorer Stimme. „Wo bist du denn solange geblieben?"
„Was meinst du?" rutschte es Coco heraus.
„Ich habe auf dich gewartet, Coco. Es ist höchste Zeit."
„Dann gib mir das Armband, damit ich in meine Zeit zurückkehren kann. Man braucht mich dort also?"
Zu Cocos grenzenlosem Erstaunen schüttelte Merlin den Kopf.
„Das
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