1763 - Einer sieht alles
fühlte sie sich. Sie ging davon aus, dass die andere Seite, wer immer sie auch war, das Zimmer noch nicht verlassen hatte. Sie wartete ab, bis ein bestimmter Zeitpunkt erreicht war.
Aber welcher?
Sie wusste nichts. Sie wollte auch nichts wissen und einfach nur in Ruhe gelassen werden, aber das würde nicht klappen, denn die Erinnerung an das Unheimliche war so leicht nicht zu unterdrücken.
Also warten.
Oder selbst die Initiative ergreifen, auch wenn es ihr schwerfallen würde, aber da musste sie durch, und sie riss sich zusammen, spürte auch das Zittern in ihrem Innern und stellte die Frage.
»Wer immer du sein magst, bist du noch da?«
Sie hörte etwas, es konnte ein leises Lachen sein, das allerdings sehr entfernt geklungen hatte, als wäre die Person bereits auf dem Weg, von hier zu verschwinden.
Ja, man hatte sie noch nicht wieder allein gelassen. Und sie wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte. Nancy blieb erst mal mit ihren Gedanken allein und sprach dann die Frage aus, die sie sich immer wieder gestellt hatte.
»Wer immer du bist, willst du was von mir?«
»Kann sein.«
Es war eine Antwort, über die man zumindest nachdenken konnte oder musste. Und sie war für Nancy auch nicht so überraschend gekommen, weil sie sich darauf hatte einstellen können.
Sie war nicht am Erdboden zerstört, das auf keinen Fall. Es tat ihr sogar gut, dies zu wissen, und sie flüsterte ihren Vorschlag in die Dunkelheit.
»Wenn das so ist, dann sag, was du willst. Du bist doch derjenige, der alles sieht. Tu dir und mir den Gefallen und rück endlich mit der Sprache heraus.«
»Sei nicht so voreilig.«
»Bin ich nicht. Ich kann nur nicht warten. Es ist Nacht. Ich will auch schlafen und...«
»Daran solltest du jetzt nicht denken«, hörte sie die Stimme.
»Warum nicht?«
»Ich habe dich ausgesucht.«
»Aha. Und weiter?«
»Du kannst stolz darauf sein, denn ich nehme nicht jeden, das solltest du wissen.«
Nancys Angst war zum großen Teil verschwunden. Was hier passierte, glich einer Plauderei, und sie war jetzt gespannt, wie sie enden würde. »Wer bist du denn?«
»Einer, der alles sieht.«
»Bist du unsichtbar?«
»Ja und nein.«
Sie lachte. »He, ist das wahr? Du kannst sichtbar und auch unsichtbar sein?«
»Möglich ist es.«
»Das ist stark. Du hast mich neugierig gemacht.« Sie setzte sich noch aufrechter hin. »Jetzt würde ich dich gern mit meinen eigenen Augen sehen.«
»Das ist nicht verboten. Das kannst du.«
»Wann denn?«
»Jetzt!«
Nancy Wilson verschlug es den Atem. Mit allem hatte sie gerechnet, damit nicht. Aber die andere Seite machte es spannend – bis zu dem Augenblick, als sie etwas von sich preisgab.
Vor Nancy und in Kopfhöhe schwebte etwas und starrte sie einfach nur an.
Es war ein Auge!
***
Wir hatten uns in die Kälte begeben, und sie würde auch um uns herum bleiben, denn die Strecke, die wir zurücklegen mussten, war zu nah, um sie mit einem Wagen zu fahren.
Vor unseren Lippen dampfte der Atem. Jane stellte den Kragen hoch, um durch den künstlichen Pelzbesatz zumindest etwas Wärme im Nacken zu spüren.
Es war eine Gegend, in die ich mich noch nie verlaufen hatte. Sehr still in dieser eisigen Nacht. Das war im Sommer sicherlich anders, denn es gab auch hier Kneipen und andere Vergnügungsstätten. Die aber schienen eingefroren zu sein. Selbst die wenigen Lichter schienen durch die Kälte ein anderes Aussehen bekommen zu haben.
Ich war froh, dass uns der Weg beschrieben worden war. Es war auch keine große Entfernung, die wir zurücklegen mussten. Darüber machte ich mir keine Gedanken. Hier ging es eher um die junge Frau, der Jane Collins eine tolle Nachricht überbringen sollte, dass sie ein kleines Vermögen geerbt hatte.
Das alles schoss mir durch den Kopf, und ich glaubte fest daran, dass Jane eine gute Psychologin war, um dieser Nancy Wilson die Nachricht so zu überbringen, dass sie nicht gleich durchdrehte.
»Woran denkst du?«
Ich musste lachen. »Wie kommst du auf diese Frage?«
»Da muss ich mir nur dein Gesicht anschauen, um Bescheid zu wissen.«
»Und was hast du herausgefunden?«
»Dass du dir Gedanken machst. Und zwar geht es um die Person, die wir treffen wollen.«
»Genau.«
»Und was stört dich an ihr?«
Ich winkte ab. »Gar nichts. Ich kenne sie nicht. Ich frage mich nur, wie sie reagieren wird, wenn sie hört, dass sie etwas geerbt hat.«
»Darauf bin ich auch gespannt.«
»Und von wem hat sie geerbt? Du hast dich bisher mit
Weitere Kostenlose Bücher