1763 - Einer sieht alles
»Nicht bewegen! Ich will nur das Geld, nicht deinen Tod. Solltest du aber Mist bauen, schieße ich!«
Die Waffe lag ruhig in der Hand der Vermummten, während sie ihre letzten Schritte ging.
Der junge Mann starrte auf die Waffe. Er war kein Held. Von der Größe her konnte er mit der Frau mithalten, ansonsten glich er einem zitternden Bündel. Sogar die Brille im Gesicht zitterte mit.
»Alles klar?«
Er nickte.
»Dann pack das Geld ein.« Die Frau legte einen Leinenbeutel auf den schmalen Tresen.
Die Kasse sprang auf.
»Na los!«
»Ja, ja...« Er tat trotzdem nichts. Er zitterte nur.
»Soll ich dir eine Kugel in den Kopf jagen?«
»Bitte nein – nein...«
»Dann pack das Geld ein. Auch die Münzen, verdammt noch mal!«
»Okay, ich – ja, ja...«
Viel Zeit hatte die Maskierte nicht. Sie konnte von Glück sprechen, dass kein Besucher in der Spielothek stand. Daran trug wohl auch das eisige Wetter die Schuld. Da blieben die Menschen gern im Warmen, aber darauf verlassen wollte sich Nancy Wilson auch nicht.
Das Geld wurde eingepackt. Zuerst die Münzen, die eine Melodie abgaben, als sie in den Beutel fielen. Es folgten die wenigen Scheine, die leicht raschelten.
Viel Beute war es nicht, das hatte Nancy bereits mit einem schnellen Blick festgestellt. Aber besser als gar nichts. Sie war blank, sie war platt, und sie brauchte den Stoff.
»Mehr habe ich nicht.«
Sie nickte. »Schon gut, gib her!«
Der junge Mann zitterte noch immer. Mit der freien Hand grapschte die Maskierte den Beutel. Dabei blieb die Waffe auf den Kopf des Jungen gerichtet, sodass auch das Zittern nicht aufhörte.
»Und keine Bullen – klar?«
Der Junge nickte. Nancy Wilson zog sich zurück. Dabei ging sie rückwärts und hielt die Mündung der Pistole auf den Mann an der Kasse gerichtet. Er hatte sich in seine Angst verkrochen, und das hatte an der Waffe gelegen, wobei er nicht wusste, dass es sich um eine Spielzeugwaffe handelte, die einer richtigen täuschend echt nachgebaut worden war.
Auch jetzt hatte Nancy freie Bahn. Noch immer ließ sich kein Mensch blicken. Ihr Mund war zu einem Lächeln verzogen, und der Atem ging nicht mehr so schnell. Sie befreite ihr Gesicht vom Stoff der Maske und konnte wieder tief durchatmen.
Die Spielhalle lag nicht in einer belebten Gegend, sondern in einer Seitenstraße, in der sich auch billige Sexläden befanden. Auch da gab es kaum Betrieb. Das rote Licht aus den Schaufenstern verteilte sich auf dem Boden, der hin und wieder Inseln aus Eis aufwies, die zu Stolperfallen werden konnten.
Die Gasse führte leicht bergan. Sie mündete in einen kleinen Platz, auf dem drei Bänke standen, die mit einer Schicht aus Eis überzogen waren.
Nancy kannte die Gegend hier. Sie war in der Nähe aufgewachsen. Deshalb wusste sie auch, wohin sie gehen musste, um sich verstecken zu können.
Das brauchte sie nicht mal, denn es gab keine Verfolger. Der Kerl würde sich hüten, die Polizei zu alarmieren. Das mochten die Betreiber dieser Hallen nicht, denn die Bullen fingen dann an, irgendwelche Fragen zu stellen.
Nancy erreichte die Bänke. Sie war recht schnell gelaufen und ein wenig außer Atem. Ihr Keuchen war zu hören, und sie wollte sich noch ein wenig ausruhen, auch sollten sich ihre Nerven beruhigen. Das dauerte eine Weile.
Es war eine recht stille Nacht. Nur der Verkehr war zu hören, aber Menschen sah und hörte sie nicht. Bei diesen eisigen Temperaturen blieb man besser im Haus.
Und dann passierte doch etwas. Nancy war soeben mit den Fingern durch ihre Haare gefahren, als sie die Stimme hörte, die flüsternd ihre Ohren erreichte.
»Ich sehe alles...«
Nancy Wilson zuckte zusammen. Sie öffnete den Mund zu einem Schrei, der aber blieb auf dem halben Weg stecken. Dafür drehte sie sich auf der Stelle um, weil sie den Sprecher ausfindig machen wollte, was ihr nicht gelang. Es gab niemanden, der sich in ihrer Nähe aufhielt, und sie stöhnte leise auf.
Sie drehte sich im Kreis. Mit der Hand fuhr sie über ihren Mund, sie spitzte die Ohren und wartete darauf, dass sich die Stimme erneut meldete.
Es geschah zunächst nicht. Um sie herum blieb es ruhig. Auch nach weiteren Sekunden war nichts passiert, und die Anspannung, die sich in ihr festgesetzt hatte, nahm allmählich ab. Sie dachte daran, sich getäuscht zu haben, denn in einer stressigen Situation bildete man sich oft etwas ein.
In diesem Fall hatte sich der Stress schon zurückgezogen, und Nancy dachte daran, ihren Weg fortzusetzen, um so
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