1811 - Der Vogelmensch
dicht an die Scheibe heran. Sie wollte besser sehen. Womöglich brauchte sie das Fenster nicht zu öffnen, um die Wahrheit zu erkennen.
Der Schatten war da – okay.
Aber nicht der Körper, der ihn produziert hatte. Der hielt sich außerhalb des Sichtbereichs auf.
Aber ihn wollte sie sehen.
Ich muss das Fenster öffnen!, schoss es ihr durch den Kopf. Es gibt keine andere Alternative.
Es war nicht einfach für sie, diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen, aber sie war auch nicht feige. Sie war die Probleme immer angegangen.
Das war auch jetzt nicht anders.
Carlotta riss das Fenster auf!
Kalte Eisluft strömte ihr entgegen. Sie schlug förmlich gegen ihr Gesicht. Einmal schnappte sie nach Luft, dann gab sie sich einen Ruck und beugte sich vor. Sie streckte ihren Kopf hinein in die Kälte, um das zu entdecken, was den Schatten geworfen hatte.
Sie sah es nicht. Der Weg nach vorn war frei. Dort musste sie erst gar nicht weiter suchen.
Und doch musste es ihn geben. Diesen unbekannten Gegenstand oder was immer den Schatten produzierte. Es kam ihr in den Sinn, in die Höhe zu schauen.
Dabei schob sie sich noch weiter aus dem Fenster und drehte ihren Körper, damit sie den Blick nach oben richten konnte.
Nein!
Doch!
Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Plötzlich entstand in ihrem Kopf ein großes Durcheinander. Da oben, da war jemand, da hing jemand in der Luft. Es war die Gestalt, die den Schatten warf, und jetzt erkannte sie den Schattenwerfer.
Es war ein menschengroßer Vogel!
***
Mit dieser Wahrheit musste Carlotta zurechtkommen!
Es war kaum zu fassen. Es war aber kein Witz, denn diesen Vogel gab es wirklich.
Das war Wahnsinn, das war verrückt. Sie hatte die Flügel gesehen, und sie wusste, dass sie es mit einem Vogel zu tun hatte und nicht mit einem Engel.
Es war schlimm. Auch für Carlotta, die selbst kein normaler Mensch war und aus einem Labor stammte, wo Geschöpfe wie sie hatten gezüchtet werden sollen.
Der Riesenvogel schwebte in der Luft. Er bewegte seine mächtigen Schwingen kaum. Da reichte schon ein Zittern, um den Vogel in der Luft schweben zu lassen.
Und er warf einen Schatten. Es war genau der Schatten, vor dem sie sich gefürchtet hatte. Er reichte bis zum Boden und verdunkelte auch die Fensterscheibe.
Carlotta reichten die wenigen Sekunden, in denen sie den Vogel beobachten konnte. Sie wollte ihn auf keinen Fall einladen, zu ihr ins Haus zu kommen.
Also weg!
Sie zog sich zurück und hämmerte das Fenster wieder zu. In diesen Laut mischte sich der Ton der Erleichterung, der aus ihrem Mund drang. Der Anblick hatte ihr einen großen Schrecken eingejagt. Er war einfach schlimm gewesen, denn damit hätte sie nie im Leben gerechnet. Sie hatte sich schon Gedanken gemacht, was den Schatten anging, aber dass ein Vogel ihn warf, war ihr nicht in den Sinn gekommen.
Und doch war es so.
Auch sie war ein Vogelmädchen.
Und sie fing an, nachzudenken. Der Vogelmensch hatte über ihr geschwebt. Er hatte in der Luft gestanden, und er war nicht angebunden gewesen. Warum er das getan hatte, wollte ihr nicht in den Kopf. Es war einfach nur anders, das stand für sie fest.
Aber sie wusste auch, dass diese Gestalt etwas mit ihrem Auftritt bezweckte. Und dieser Grund musste mit ihr zusammenhängen. Möglicherweise mit ihrer Vergangenheit.
Darüber wollte sie nicht nachdenken. Damit hatte sie abgeschlossen, denn diese Zeit war das pure Grauen gewesen.
Sie wartete. Der Schatten bewegte sich nicht. Nach wie vor fiel ein Teil von ihm gegen die Scheibe und verdunkelte sie. Carlotta fragte sich, wie lange sie den Schatten noch sehen würde, aber darüber wollte sie nicht weiter nachdenken. Sie musste erst mal mit sich selbst zurechtkommen.
Warten. Ja, das war es eigentlich. Warten, bis die Gestalt wieder verschwand oder bis Maxine zurückkehrte. So lange konnte es doch nicht dauern.
Und so wartete sie weiter. Das Fenster ließ sie nicht aus dem Blick. Sie ahnte, dass sich dort noch etwas tun würde. Da war noch nicht alles vorbei. Der andere war bestimmt nicht nur gekommen, um sich so zu zeigen. Dahinter musste einfach mehr stecken.
Sie hatte sich erneut auf den Schatten konzentriert und sah jetzt, dass er sich bewegte. Es war mehr ein Zucken oder das Flattern eines Tuchs. Dieser Vergleich schoss ihr durch den Kopf.
Nicht nur der Schatten bewegte sich, sondern auch die Person, die ihn geworfen hatte. Sie glitt nach unten, und Carlotta sah zuerst die beiden Füße, die nicht so aussahen wie die
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