1811 - Der Vogelmensch
Dann drehte sie den Kopf in alle Richtungen, schaute auch nach oben und war froh, dass sie diesen Vogelmenschen nicht mehr zu Gesicht bekam.
Aufatmen und jubeln!
Sie tat beides nicht. Kein Aufatmen, kein Lachen. Carlotta zog sich wieder zurück, nachdem sie einen letzten Blick in den Himmel geworfen hatte, der aber leer war.
Konnte sie jetzt aufatmen?
Das war die große Frage. Der Vogelmensch war zwar verschwunden, aber war er wirklich weg?
Darauf konnte sie keine konkrete Antwort geben. Sie hatte ihn nicht verschwinden sehen. Er hätte ebenso gut noch in der Nähe sein können, um ihr aufzulauern.
Ihr kam der Gedanke, dass er vielleicht auf dem Dach hockte und da wartete, denn ihm machte die Kälte nichts aus.
Warten …
Carlotta hoffte noch immer auf eine Rückkehr der Tierärztin. Zu zweit würde es ihr besser gehen. Daran glaubte sie, und sie ging jetzt in den großen Wohnraum, der mit einem breiten Fenster ausgestattet war. Es ließ einen Blick in den weitläufigen Garten zu, der in tiefer Dunkelheit lag.
Das wollte sie ändern und schaltete das Außenlicht ein. Im Garten verteilt entstanden plötzlich helle Inseln, deren Licht allerdings nicht den Riesenvogel aus der Dunkelheit riss. Er hielt sich also dort nicht auf.
Aber wo dann?
Ihr fiel wieder das Dach ein. Dort konnte er sitzen und warten, denn es war ein Flachdach.
Carlotta löschte das Licht an der hinteren Grundstückseite und ging zurück in ihr Zimmer. Hier wollte sie auf Maxine warten. Und doch ging ihr das Dach nicht aus dem Kopf.
Auf das Dach zu gelangen war für sie kein Problem. Zwei Flügelschläge würden sie nach oben bringen.
Ja, sie musste es tun. Mit einer entschlossenen Kopfbewegung setzte sie sich in Bewegung. Ihr Ziel war klar, es war die Haustür. Sie musste sie kurz öffnen, dann konnte sie an der Hauswand entlang in die Höhe fliegen.
Sie kam zur Tür. Öffnete sie. Dann der vorsichtige Blick nach draußen.
Da war nichts zu sehen.
Umso besser. Sie ging nach draußen in die Kälte und schaute noch mal nach vorn.
Einen Lidschlag später zuckte sie zusammen, denn sie sah ein Stück von sich entfernt ein Scheinwerferpaar, das auf ihr Haus gerichtet war.
Das war Maxine Wells, die zurückkehrte. Also stellte sie es erst einmal zurück, einen Blick aufs Dach zu werfen.
Ihr war kalt, und deshalb schloss sie die Tür. Sie wollte hier im Flur auf Maxine warten und danach sehen, wie es weiterging.
Eigentlich hätte sie froh sein können.
Sie war es nicht.
Das dicke Ende kommt immer nach, das hatte sie schon oft erlebt. Und das konnte durchaus auch hier zutreffen …
***
Die beiden Kühe hatten wirklich gleichzeitig gekalbt. Für Maxine hätte es nicht besser laufen können. Sie hatte auch nicht viel zu tun brauchen, die Kälbchen glitten geschmeidig aus dem Leib der Mutter. Da brauchte keiner nachzuhelfen.
Auch der Bauer und seine Frau waren erleichtert gewesen. Sie hatten Maxine noch in die Küche gebeten, wo die Frau erst mal einen Kaffee kochte. Als sie sah, dass Maxine auf die Uhr schaute, sagte sie: »Bitte, die Zeit haben Sie doch wohl. Die Kälte der Nacht ist auch nichts.«
»Ich sitze im Auto.«
»Trotzdem.«
»Gut.« Maxine lächelte und setzte sich auf den klobigen Holzstuhl am Küchentisch.
Auch der Bauer betrat die Küche. Er hatte sich gewaschen und andere Kleidung übergestreift. Sogar das graue Haar hatte er gekämmt. Sein Gesicht zeigte einen zufriedenen Ausdruck, und der blieb auch, als er sich eine Zigarre zwischen die Lippen gesteckt hatte und sie mit Genuss anzündete.
»Ja, das war gut, sehr gut sogar.« Er lachte und bekam auch eine Tasse Kaffee.
»Ich hätte gar nicht zu kommen brauchen«, sagte Maxine.
»Tja, das ist die Frage. Man steckt ja nie drin. Und wenn zwei auf einmal kalben, ist das immer so eine Sache. Da bin ich schon beruhigter gewesen, Sie an meiner Seite zu haben.«
Sie tranken sich zu.
Die Bäuerin hatte einen Kaffee gekocht, der Tote hätte aufwecken können. Frische Milch stand auch bereit, und so griff auch die Tierärztin danach.
Ein Alarmruf war nicht gekommen. Sie hatte es mit Carlotta abgesprochen. Sollte ihre Hilfe gebraucht werden, hätte Carlotta ihr Bescheid gesagt.
Das war nicht geschehen, so war sie recht locker und stand nach gut zehn Minuten auf.
»Jetzt wird es aber Zeit für mich. Herzlichen Dank für den Hammerkaffee.«
»Unsinn. Wir haben zu danken. Was Sie getan haben, das hätte nicht jede gemacht.«
»Ach, ich schätze schon. Wer einmal diesen
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