1811 - Der Vogelmensch
Und die war nicht grundlos gekommen. Es lag an ihm. An einem Besucher in der Nacht, den sie zwar gesehen, aber nicht erkannt hatte. In der Nacht war er gekommen und hatte sie nicht angegriffen, aber er hatte ihr die Angst eingepflanzt.
Es war der Schatten!
So nannte Carlotta ihn. Sie hatte nicht gesehen, wie er in Wirklichkeit aussah, aber er war da gewesen. Sein Schatten hatte sich vor ihrem Fenster gezeigt und alles verdunkelt. Er war nicht in ihr Zimmer eingedrungen. Dass dies so bleiben würde, darauf wollte sie sich nicht verlassen.
Was konnte sie dagegen unternehmen? Nichts. Er kam, wann er wollte, er blieb so lange, wie er wollte, und er hatte ihr zudem eine Botschaft überbracht.
Gedanklich. Nie ausgesprochen. Es waren Übertragungen gewesen, und die hatte sie sehr gut verstanden. Besonders ein Satz war ihr im Gedächtnis hängen geblieben.
Du gehörst zu mir!
Das war der Satz, der sie hatte schaudern lassen. Sie gehörte nicht zu ihm, das stand fest. Ganz und gar nicht. Sie gehörte keinem Menschen, sondern nur sich selbst, und das sollte so bleiben. Selbst Maxine gehörte sie nicht, und die Tierärztin hätte diesen Anspruch auch niemals gehabt.
So wartete sie ab. Wieder mal. Vor ihr lag eine neue Nacht. Eine finstere und kalte, denn es war Winter. Schnee hatte es auch gegeben, recht viel sogar, und er war auch liegen geblieben bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt.
Das Haus der Tierärztin war groß. Es standen Carlotta einige Zimmer zur Verfügung, in denen sie sich aufhalten konnte, doch sie hatte sich für ihr Zimmer entschieden, da war auch alles vorhanden, was sie brauchte.
An diesem Abend lief die Glotze nicht, sie lag auf der Couch und las. Das Möbelstück stand so, dass sie gegen ein Fenster schauen konnte.
Es gab auch noch eine zweite Liege in diesem Raum. Das war ihr Bett, auch es war so hingestellt worden, dass vom Kopfende her der Blick auf das große Fenster fiel.
Wenn sie schon im Liegen las, dann lieber auf der Couch. Musik hatte sie auch nicht an, und mit dem Lesen war das ebenfalls so eine Sache. Es klappte nicht, denn sie war nicht in der Lage, sich zu konzentrieren.
Irgendwie wartete sie auf den Schatten. Längst war es dunkel geworden, und mit der Dunkelheit war die Stille gekommen, die sich im Haus verteilt hatte. Zumindest hatte sie das Gefühl.
Hin und wieder hörte sie Maxine durch das Haus gehen. Die Praxis befand sich in einem Anbau. Dort führte Maxine auch Untersuchungen und kleine Operationen durch.
Etwas gegessen hatte Carlotta schon. Zwei dünne Pfannkuchen, bestrichen mit einem leckeren Käse. Das reichte ihr. Und ihr reichte auch das Winterwetter. Sie sehnte sich nach dem Frühling und somit nach einer Zeit, in der es wieder Spaß bereitete, durch die Lüfte zu segeln, und man nicht Angst haben musste, zu einem Eisklumpen zu werden.
Das würde noch dauern. In Schottland waren die Winter oft sehr lang, das wusste Carlotta.
In London sah es anders aus. Da lag der Schnee sicherlich nicht so hoch. Und wenn er dort fiel, taute er sicherlich schnell weg.
London. Eine große Stadt. Ein Ort, den sie gern mal besucht hätte. Die Einladung stand. Johnny Conolly hatte sie ausgesprochen, und wenn sie an ihn dachte, klopfte ihr Herz schon schneller. Sie mochte ihn, und er mochte sie auch. Aber da ging es ihnen wie den Königskindern. Sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war zu tief. Es sei denn, Johnny Conolly kam hierher nach Dundee.
Ja, das sollte er. Carlotta hatte sich fest vorgenommen, ihn zu fragen und einige Tage mit ihm zu verbringen. Das musste doch einfach mal klappen.
Jemand klopfte an die Tür und öffnete sie sofort danach. Es war Maxine Wells, die das Zimmer betrat und dicht vor der Tür stehen blieb.
»Du hast es hier aber dunkel«, sagte die blonde Tierärztin und streifte zugleich ihre wattierte Jacke über.
»Gemütlich.«
»Meinst du?«
»Klar.«
»Egal.« Maxine winkte ab. »Ich bin jetzt mal weg. Ein Notfall. Ich muss zu einem Farmer. Bei ihm kalben zwei Kühe zugleich, und bei einer haben sich Komplikationen eingestellt.«
»Dann dauert es länger – oder?«
»Damit musst du rechnen.«
»Schon gut, ich komme zurecht.«
»Wunderbar. Ans Telefon musst du nicht gehen, ich habe da schon alles mit dem Anrufbeantworter gerichtet.«
»Alles klar, Max.«
»Bis später, Süße.« Maxine winkte ihrem Schützling noch mal zu, dann zog sie sich zurück.
Carlotta blieb allein im Haus. Sie hörte noch, wie die Haustür ins Schloss fiel
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