1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
jener Eindringling am Ende mehr als nur Geld und Brot von Jette verlangt haben könnte, schien dieser gar nicht bewusst zu sein.
Doch dann riss sich die Frau des Buchdruckers zusammen. »Denk nicht mehr daran! Vielleicht war er ja auch nur ohnmächtig und lebt noch. Hier bist du in Sicherheit.«
Sie behielt den Gedanken bei sich, dass es Sicherheit in diesen Zeiten nicht gab. Noch wusste niemand in der Stadt, wie die gestrige Schlacht ausgegangen war. Ob die Verbündeten Napoleon zurück über den Rhein treiben konnten, wie die meisten Menschen hofften, damit endlich Frieden wurde, oder ob der Usurpator die Russen und Preußen erneut besiegt hatte.
Doch ihre Worte erreichten Henriette nicht.
»Wenn ihn seine Leute gefunden hätten, dann hätten sie mich und Franz auf der Stelle umgebracht …«, wehklagte das Mädchen. »Also nahm ich meinen Bruder, dieses letzte Brot und das Medaillon, und wir schlichen uns aus der Stadt hinaus. In meiner Angst konnte ich nicht einmal daran denken, noch ein paar Sachen zusammenzupacken, etwas Kleidung. Wir mussten schnellstens fort. So rannten wir los, einfach nur Richtung Süden, weil es hieß, die französische Armee würde nordwärts nach Leipzig ziehen. Es waren viele Leute auf der Flucht, manchmal hat uns jemand aus Barmherzigkeit auf einem Fuhrwerk ein Stück mitgenommen. Die Preußen, wenn wir auf welche gestoßen sind, ließen uns durch die Linien …«
Sie griff nach der Tasse mit heißer Milch, die Lisbeth mit einem aufmunternden Lächeln gebracht hatte, und umklammerte sie, als könnte sie so die innere Kälte aus sich vertreiben. Dann trank sie hastig aus, sonst würde sie noch anfangen, mit den Zähnen zu klappern. Am liebsten wollte sie weinen und schreien, mit den Füßen aufstampfen und in die Welt hinausschreien, was für ein Irrsinn dieser Krieg war, in dem sich Menschen töteten, die einander nicht einmal kannten – um eines Brotes willen!
Noch vor gar nicht langer Zeit schien ihr Leben geordnet. Der Krieg war weit entfernt, ihrem Vater ging es gut, sie hatte Gedichte geschrieben, Bücher gelesen und davon geträumt, dass einmal ein junger Mann ihr Herz erobern würde. Doch nichts würde jemals wieder so sein. Sie hatte durch ihre Bluttat die Unschuld der Seele verloren und würde nie wieder ein unbeschwertes Leben führen. Und statt Gedichte würden jetzt Kriegsproklamationen gedruckt und gelesen.
»Tante«, bat sie leise und sah Johanna ins Gesicht. »Könnt ihr mich und Franz aufnehmen? Ich werde mich in der Werkstatt nützlich machen. In der Buchhandlung. Oder in der Küche … Ich kann Lettern sortieren oder Korrektur lesen. Der Oheim druckt doch noch seine
Gemeinnützigen Nachrichten?
«
Johanna seufzte. Sie vergrub die Hände in ihren braunen Locken, zwischen denen erste graue Strähnen schimmerten, ohne zu bemerken, dass dabei das gerüschte Häubchen verrutschte. Dann tätschelte sie die Hände ihrer Nichte, lächelte ihr mühsam zu und sagte: »Kind, begreifst du, wie viel Glück du hattest, lebend hierhergekommen zu sein? Ihr seid direkt vor dem Krieg hergezogen! Es muss gestern Tausende Tote auf beiden Seiten in dieser Schlacht gegeben haben, von der wir noch nicht einmal wissen, wo genau sie stattfand und wie sie ausgegangen ist. Vielleicht ist euer Haus zerstört. Aber mach dir keine Sorgen! Ihr bleibt natürlich hier.«
Sie stemmte sich hoch, rückte die Haube zurecht und trippelte auf Strümpfen zur Tür. »Wo steckt denn nun der Meister?«, rief sie ungeduldig hinaus.
Nelli, das junge Dienstmädchen mit den leuchtend roten Haaren, kam und knickste. »Er ist immer noch im Rathaus, Meisterin. Beim Zensor, die Seiten für die nächste Ausgabe vorlegen.«
Warum muss das ausgerechnet heute so lange dauern?, dachte die Frau des Buchdruckers voller Ungeduld. Aber jetzt muss ich erst einmal dafür sorgen, dass das Mädchen zur Ruhe und auf andere Gedanken kommt. Was für schreckliche Zeiten, wenn schon solche zarten jungen Dinger mit Schürhaken auf bewaffnete Männer losgehen! Ich hoffe, sie vergisst das Ganze. Und dass sie nicht doch noch das Lazarettfieber ins Haus bringt. Gott steh uns allen bei!
Mit einem gespielt munteren Lächeln forderte sie ihre Nichte auf nachzusehen, was ihr Bruder inzwischen mache und was es noch zu essen gebe.
»Dann kannst du dich erst einmal waschen und ausschlafen. Eure Sachen bringen wir schon wieder in Ordnung. Für Franz finde ich etwas in den Truhen, aus dem mein Eduard herausgewachsen ist. Und dir werde
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