186 - Wächter der Stille
überwinden, sonst drehe ich durch!
Clarice wusste, dass ihre Furcht nicht aus der Tiefe resultierte, in der sich die Transportqualle bewegte. Zweitausend Meter waren lebensbedrohlich und erschreckend, keine Frage. Doch der wirkliche Schrecken war das Ziel – Gilam’esh’gad, die geheimnisvolle, uralte Metropole der Hydree. Niemand kannte ihre genaue Lage, niemand wusste, ob die Stadt überhaupt existierte. Quart’ol hatte nur das Wort eines Fremden, dass sie mehr als eine Legende war. Doch eines stand fest: Wer Gilam’esh’gad suchen wollte, der musste ein Wagnis auf sich nehmen, das alle Dimensionen sprengte. Die Stadt lag irgendwo am Grund des Marianengrabens. Elftausend Meter unter den Pazifikwellen.
Clarice wandte sich an Quart’ol. »Was macht dich eigentlich so sicher, dass die Transportqualle dem ungeheuren Wasserdruck standhält? Ich meine, ihr Hydriten bewegt euch doch normalerweise gar nicht in solchen Tiefen. Also hast du auch keine Vergleichswerte, oder?«
Quart’ol nickte Vogler zu. »Übernimm mal kurz die Steuerung«, sagte er, ignorierte den Protest des Marsianers und verließ ihn. Ein Stück neben Clarice griff er in die Quallenwand. Hier ein kräftiger Zug, da ein bisschen Drücken, und aus der bionetischen Masse quoll ein Gebilde, das man mit etwas Fantasie als Sessel bezeichnen konnte. Schwungvoll ließ sich Quart’ol hinein fallen. Er legte eine Hand auf Clarices Arm. »Was ist los?«, fragte er ruhig.
Clarice zögerte. »Ich weiß es nicht.« Sie blickte zu Boden, schüttelte den Kopf. »Anfangs klang es so verlockend, eine legendäre Stätte zu suchen, die seit Jahrtausenden als verschollen gilt. Die Stadt des Gilam’esh, des großen Weltenwanderers…«
»Zweitausendeinhundertvierzig, zweitausendeinhunderteinundvierzig. Wir sinken zu schnell!«, scholl es nervös vom Bug her.
Der Hydrit winkte ab. »Du schaffst das schon, Vogler!«
Clarice seufzte und fuhr fort: »Doch inzwischen frage ich mich, ob wir nicht ein wenig unüberlegt gehandelt haben.«
Quart’ol stutzte. »Wieso?«
»Ich glaub, da ist was auf dem Monitor«, sagte Vogler gehetzt.
Quart’ol sah flüchtig zu ihm hin, Clarice ignorierte den Zwischenruf. »Wir haben keine gesicherten Erkenntnisse! Weder über die Existenz der Stadt, noch über die Tauchfähigkeit der Transportqualle.« Sie hob den Kopf, blickte in die großen Hydritenaugen. »Das bedeutet, wir setzen unser Leben aufs Spiel und wissen nicht einmal, ob dieses Unternehmen auch nur eine Chance auf Erfolg hat! Gut möglich, dass wir im Marianengraben zerquetscht werden wie Filleuken und sterbend erkennen müssen, dass man da unten nichts weiter findet als Sand!« (Filleuken: marsianische Läuse) Quart’ol lächelte.
»Du hast Angst vor der Tiefe, das löst solche Gedanken aus«, sagte er freundlich. »Es stimmt, wir setzen unser Leben aufs Spiel. Doch ich versichere dir, mein Informant ist zuverlässig! Einauge gehört zum Bund der Gilam’esh-Anhänger, das sind ehrenwerte Quan’rill, denen man vertrauen kann.«
Der Hydrit berichtete von seinem Treffen mit dem Geheimbund. Quart’ol hatte den Mitgliedern alles erzählt, was er von Maddrax’ Reise zum Mars wusste, und gehofft, dass man ihn für diese wertvollen Informationen in den Rat der Dreizehn aufnehmen würde. Doch er wurde enttäuscht: Die Gilam’esh-Anhänger glaubten ihm – oder vielmehr Matts Erinnerungen – nicht! Sie wollten nicht einmal akzeptieren, dass Commander Matthew Drax ein zuverlässiger Freund war.
Stattdessen beschuldigten sie Quart’ol, die Geheimnisse seines Volkes an einen Unbefugten verraten zu haben. In dieser Situation hatte ihn Einauge bei Seite genommen und ihm zugeraunt:
»Gilam’esh’gad liegt am Grund des Marianengrabens, in einer Region am südwestlichen Ende, die deine Menschenfreunde Challengertief nennen. Finde sie, bring Beweise für Drax’ ungeheuerliche Geschichte mit, und man wird dich rehabilitieren.«
»Du siehst also, dass wir uns hier keineswegs leichtfertig in ein Abenteuer stürzen!«, schloss der Hydrit.
»Zweitausendeinhundertachtzig. Zweitausendeinhunderteinundachtzig…«
Clarice wusste, dass sie Quart’ol vertrauen konnte. Als sie sich zurücklehnte, wurde ihr das unablässige Wispern im Lautsprecherhelm bewusst, und sie lächelte. Ihr marsianischer Begleiter zählte jeden einzelnen Meter mit, den der Tiefenmesser anzeigte! Vogler hörte sich an wie ein Junge, der einem richtig großen Knall entgegen fieberte.
Er kam.
Quart’ol
Weitere Kostenlose Bücher