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Die Ernte

Die Ernte

Titel: Die Ernte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Nicholson
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    ERSTES KAPITEL
     
    Tamara Leon rannte über den Parkplatz, während der Regen auf ihren Kopf und ihre Schultern niederprasselte.  Sie hatte gerade heute ihren Regenschirm nicht mitgenommen und sie verfluchte ihre eigene Nachlässigkeit. Der grimmige Wind der südlichen Appalachen zerfetzte zwar normalerweise ohnehin den dünnen Stoff von Regenschirmen und verbog ihr Metallgestänge, aber so hätte sie wenigstens einen kleinen Talisman zum Schutz vor den Regengöttern ihr Eigen nennen können.
    Schnell steckte sie den Schlüssel in das Türschloss ihres Toyotas, riss die Autotür auf und ließ sich auf den Fahrersitz fallen, während der Regen weiter auf das Autodach trommelte. Tamara schlug die Türe zu und wartete einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen. Ihre Ledertasche war mit Wasserflecken übersät.  Sie warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel. Hatte sich die warnende Stimme wieder in ihren Augen versteckt?
    Nein, nur Augen.
    Mit einem Ärmel ihres Mantels wischte sie energisch ein Sichtfenster in die innen beschlagene Windschutzscheibe. Die ordentlichen, quadratischen und massiven Ziegelgebäude der Westridge University umsäumten den Parkplatz.  Die Uni versprühte den Charme eines rustikalen, pfeifenrauchenden Hausmeisters.  Durch ihre Hallen wehte nicht das leiseste Lüftchen wissenschaftlichen Disputs, außer wenn Tamara eine ihrer spektakulären Psychologietheorien vom Stapel ließ.  Zum Beispiel über die Existenz von übersinnlicher Wahrnehmung.
    Sie startete den Motor und drehte die Heizung voll auf, um für die lange Fahrt in die Berge gewappnet zu sein. Es regnete noch immer wie verrückt. Wenigstens schneite es nicht. Denn dann würde aus der halbstündigen Fahrt eine zwei- oder dreistündige Tortur. Tamara rollte aus ihrer Parklücke, während die Scheibenwischer ihres Autos versuchten, der Wassermassen Herr zu werden.
    Sie schob eine Kassette in ihr altmodisches Autoradio, Wild Planet von den B-52´s. Sie legte Kilometer für Kilometer zurück und sang laut mit Cindy und Kate mit, während die beiden im Duett vor sich hin kreischten. Wahrscheinlich dachten die anderen Autofahrer, die sie überholten oder ihr entgegenkamen, sie sei betrunken, denn sie hüpfte in ihrem Autositz zur Musik auf und ab und bewegte ihren Kopf rhythmisch hin und her. Aber so versuchte sie nur einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich zu bringen.
    Diese Zeit gehörte nur ihr alleine. Hier war sie nicht mehr Frau Professor Leon und sie war noch nicht "Mami" oder "Liebling", wie sie in einer halben Stunde genannt werden würde. Und jede Minute, die sie außer Haus verbringen konnte, bedeutete auch eine Verschnaufpause von den zunehmend grausamen Schmähungen, die ihr Robert an den Kopf warf. Sie konnte wenigstens so tun, als ob ihr Zuhause ein glückliches wäre.
    Manchmal überkam sie der Gedanke, dass sie ihr ganzes Leben lang nur verschiedene Rollen gespielt hatte. Wildfang, Sportskanone, Abschlussredner an ihrer Universität, Ehefrau, Professor, Mutter, unentdeckte Hintergrundsängerin der B-52´s.  Alles, nur nicht Papas Liebling. Das Einzige, was sie jemals sein wollte, aber nie sein konnte.
    Surrend fraßen ihre Reifen Kilometer für Kilometer und schon bald hatte sie den Stadtrand von Windshake erreicht. Sie fuhr an einem weiß getünchten Motel vorbei, das über dem Abgrund einer Klippe thronte. Vor der Rezeption stand ein schwarzer Plastikbär, der seine Pfoten in den Regen streckte. Er trug ein schwarzes T-shirt mit der weißen Aufschrift "Johannes 3:16".  An den meisten Tagen hatte sie von hier einen wunderschönen 180 Grad-Panoramablick auf die untenliegenden Täler.  Aber heute sah sie nur Nebel, der die Berge wie eine graue Wolldecke einhüllte. Sie hatte gerade die Gemeindegrenze überquert, als sich die düstere Stimme in den Tiefen ihres Schädels wieder zu Wort meldete.
    Shhhh, sagte sie ganz leise, so als ob sie sie beruhigen wollte. Oder um sie einzulullen und in trügerische Sicherheit zu wiegen. Aber ihr Verteidigungswall gegen die innere Stimme stand felsenfest, wie eine Chinesische Mauer gegen die heranstürmenden mongolischen Horden. Es gab keine innere Stimme. Hatte Robert ihr das nicht schon dutzendfach gesagt, jedes Mal ein bisschen bestimmter und eindringlicher als das Mal zuvor?  Hieß es nicht, dass Menschen mit übersinnlichen Wahrnehmungen verrückt waren?
    Sie fuhr an einem Obstverkaufsstand, der unter einem Felsvorsprung kauerte, vorbei. Durch den dünnen

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