0644 - Der Leichenfürst von Leipzig
»Wer soll sterben?«, fragte er.
»Wen willst du sterben lassen?«
»Das ist mir egal.«
Der Mann aus Leipzig lachte. Er nannte sich Hoffmann, frei nach dem Schriftsteller E.T.A. Hoffmann, der ein sehr unruhiges Leben geführt hatte und dem Leipzig nicht fremd gewesen war. Besonders nicht der Auerbach-Keller. Diese Gaststätte war durch eine Oper - Hoffmanns Erzählungen - weltberühmt geworden.
Hoffmann strich über seinen Nasenrücken. »Aber du willst es sehen?«
»Natürlich.«
»Gut. Noch einmal. Dir ist egal, wer sterben soll?«
»Ja, zum Henker. Nur will ich den Beweis haben. Verstehst du das endlich?«
»Alles klar, van Akkeren, alles klar.« Hoffmann räusperte sich. »Warte einen Moment.« Er streckte seinen Kopf vor und schaute in die schmale Gasse, auf der das alte Kopfsteinpflaster noch vom letzten Regen her feucht schimmerte.
Die Luft drückte. Es war auch am Abend kein Wind aufgekommen, und so hing die berühmtberüchtigte Leipziger Luft wie ein Sack über der Stadt. Zudem stank sie widerlich. Der Geruch von Schwefelgasen und anderem Zeug vermischte sich zu einem »Aroma«, vor dem sich der Fremde nur ekeln konnte.
Hoffmann dachte da anders. Für ihn war der Geruch wie Balsam. Er erinnerte ihn an den Teufel, an die Hölle, die ihm das gegeben hatte, was kein anderer besaß.
Er hatte van Akkeren nur in Andeutungen darüber berichtet. Klar, dass der Fremde einen Beweis brauchte, und den wollte ihm Hoffmann auch liefern.
Er verließ die Einfahrt. Die Hände tief in den Taschen seines Mantels vergraben, so schlenderte er die Gasse hinunter. Der Mantel war völlig unmodern, die Schultern zu breit und eckig. Er hätte auch aus alten Armeebeständen stammen können.
Hoffmann hatte alles vorbereitet. Er spürte, wie die Blicke Vincent van Akkerens auf seinem Rücken brannten, und ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen.
Vor einem schmalbrüstigen Haus, an dem noch Stromkabel außen entlang liefen, blieb er stehen, steckte zwei Finger in den Mund und pfiff. Es war das Zeichen. Alles andere würde sich automatisch ergeben…
Von einer Dusche konnte Erika nur träumen. Ebenso von einem eigenen Bad. Aber sie besaß wenigstens ein Waschbecken, das im toten Winkel zur Tür hing und im Laufe der Zeit einen grauen Schimmer angenommen hatte.
Ein Zimmer bewohnte die Blondine nur. Schlafraum, Wohnzimmer und Bad in einem.
Die Möbel hatte sie von ihren Großeltern bekommen. Sie würden nicht mehr lange halten, in den Fünfzigern hatte man nicht sehr stabil gebaut. Zwanzig war Erika jetzt, vom Leben enttäuscht. Nur Arbeit, wenig Geld, dazu noch Ostmark, nein, das war nichts für sie.
Auf der letzten Leipziger Messe war ihr dann die Idee gekommen, es einmal zu versuchen. Es gab genügend Männer, denen sie die Zeit vertreiben konnte, und da sie sehr hübsch war, konnte sie sich die Kunden sogar aussuchen.
Erika kassierte in Westgeld, ließ es aber in einem Versteck liegen. Erst wenn die Währungsunion perfekt war, würde ihr das Geld gut tun.
Die Messe ging vorbei, sie hatte sich an das Leben gewöhnt und war hin und wieder auf den Strich gegangen. Sogar vor einigen Stunden hatte sie einen Freier getroffen, der ihr einhundert Westmark versprochen hatte. Er wollte sie um kurz vor Mitternacht abholen. Sie hatten als Zeichen einen Pfiff vereinbart.
Erika hatte sich gewaschen und überlegte, was sie anziehen sollte. Der billige Minirock erschien ihr am geeignetsten. Sie hielt ihn in das Licht der Lampe, wo der helle Stoff so verblichen aussah. Als Oberteil wählte sie einen roten Pullover, den sie nur mühsam über ihre herausfordernd gewachsenen Kurven zwängen konnte. Der Ausschnitt hatte ursprünglich die Form eines V gehabt, war aber von Erika erweitert worden, damit die Kunden sehen konnten, was sie zu bieten hatte.
Die Schminke stammte aus dem Westen. Sie roch besser als die einheimische.
Erika hatte ein leidlich hübsches Puppengesicht mit einem eigentlich zu großen Mund, der, wenn er geschminkt war, noch breiter wirkte.
Sie entschied sich für ein helles Rot, das aussah wie frisches Blut. Gepudert war sie schon, steckte die Haare noch einmal hoch, das machte sie größer, drehte sich zweimal vor dem Spiegel und lächelte sich dabei selbst zu.
Sie fand sich gut…
Dann ging sie zum Fenster. Ihr Blick fiel auf die freudlose Gasse mit dem feuchten Pflaster. Ungefähr dreißig Meter entfernt leuchtete die trübe Kuppel einer Laterne. Ansonsten war es düster, gerade das richtige Licht für
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