190 - Der Sohn des Vampirs
Balkontür. Sie konnte sie nicht sofort öffnen, weil sie mit dem Mechanismus nicht vertraut war.
»Einen Augenblick«, sagte Karen und legte einen langen Aluminiumhebel um. »Jetzt kannst du hinausgehen.«
Vicky trat durch die Tür auf den breiten, dunklen Balkon. Er reichte bis zum Schlafzimmerfenster. Vicky fröstelte, obwohl der Abend nicht kühl war.
Sie fühlte sich beobachtet, aber das mußte sie sich wohl einbilden, denn sie sah niemanden, und hier oben konnte auch kaum jemand sein.
Sie beugte sich über das Geländer und sah unten vor dem Haus ihren Wagen stehen. Ein eigenes Fahrzeug besaß sie nicht. Sie mietete die Autos nach Lust und Laune. Wenn ihr morgen nach einem Lamborghini gewesen wäre, hätte sie nur anzurufen brauchen, und eine Stunde später hätte der Wagen vor Tony Ballards Haus am Trevor Place gestanden.
Sie kehrte mit Karen in das Apartment zurück, ihre Freundin schloß die Balkontür und sie setzten sich. Es gab noch so vieles, worüber sie nicht gesprochen hatten.
Der Mann, den die Mädchen nicht entdeckt hatten, lag indes auf dem Dach über ihnen, und ein grausamer Ausdruck kerbte sich um seine wulstigen Lippen.
Nach zwei Stunden verabschiedete sich Vicky. Sie versprach, sich telefonisch bald wieder zu melden, die Nummer hatte sie sich aufgeschrieben.
Nachdem sie abgefahren war, kletterte der Mann vom Dach herunter…
***
»Der Hund muß noch mal raus«, sagte Erna Palance, und wie jeden Abend stellten sich ihr Mann Albert und ihr Sohn Boris taub.
»Soll ich mit Ben vielleicht Gassi gehen?« fragte die Frau ärgerlich. Sie bügelte die Wäsche ihrer Familie. »Das würde euch ähnlich sehen. Vor dem Fernseher sitzen, Bier saufen und die Mutter um diese Zeit mit dem Hund um den Block laufen lassen, was? Also los, ihr Faulpelze! Wer meldet sich freiwillig?«
»Ich war gestern dran!« erinnerte Boris seinen Vater.
»Du bist heute noch mal dran.«
»Wieso? Wir hatten abgemacht, daß einmal du und einmal ich…«
»Ich bin heute abend müde, mußte schwer arbeiten, während du den ganzen Tag auf der faulen Haut lagst.«
»Ich kann nichts dafür, daß ich arbeitslos bin.«
»Ach, Quatsch. Du bemühst dich ja gar nicht ernsthaft um einen Job!« behauptete Albert Palance.
»Das ist nicht wahr, ich…«
»Werdet ihr wohl aufhören, euch zu streiten?« Erna Palance seufzte geplagt.
»Man wird doch so einem Rotzlöffel noch seine Meinung sagen dürfen!« ärgerte sich Albert Palance. »Die heutige Jugend taugt nichts.«
»Ich wette, das hat dein Vater auch gesagt, als du jung warst«, konterte Boris. »Es ist ein Generationsproblem. Die Alten verstehen die Jungen nicht.«
»Was gibt’s denn da zu verstehen? Ich stelle fest, daß du stinkfaul und arbeitsscheu bist, und wenn du jetzt nicht gleich aufspringst und die Leine nimmst, gibt es einen Satz heißer Ohren für dich.«
Der rothaarige Boris verschränkte die Arme vor der Brust. »Es gibt mit Sicherheit keinen Vater in ganz London, der seinen 19jährigen Sohn noch verdrischt.«
»Oh, da bist du aber schlecht informiert, mein Lieber. Frank Cartwright verprügelt seinen renitenten Sohn fast jeden Tag.«
»Wenn du Vorhaben solltest, dir an ihm ein Beispiel zu nehmen, ziehe ich aus.«
»Und wohin, bitteschön?« erkundigte sich Albert Palance spöttisch. »Unter eine der Themsebrücken?«
»Ich finde schon was!«
Erna schaltete wortlos das Bügeleisen ab. Manchmal fühlte sie sich mit ihrer Familie gestraft. Als sie hier eingezogen waren und den Hausmeisterposten übernommen hatten, hatte Albert versprochen, ihr zu helfen, wann immer er Zeit hatte.
Am Anfang hatte er das auch getan, doch merkwürdigerweise hatte er heute fast nie mehr Zeit, und Boris war, was die Faulheit anging, noch schlimmer als sein Vater. Also blieb alles an Erna Palance hängen.
Es gab Tage, da wäre die Frau am liebsten auf- und davongegangen. Aber wohin geht man, wenn man es bis obenhin dicke hat und fast 50 ist?
Erna griff nach der Leine. »Ben!« rief sie.
Der Hund, ein Rauhhaardackel, viel zu fett, weil er von allen gefüttert wurde und sich zuwenig bewegte, kam hinter dem Sofa hervor und lief zur Tür.
Albert Palance sah seinen Sohn empört an. »Du willst deine Mutter tatsächlich allein auf die Straße gehen lassen? Wenn du nicht sofort aufstehst, mache ich dir Beine, Freundchen, und Geld gibt es auch keins mehr.« Er wußte, womit er seinen Sohn am empfindlichsten treffen konnte.
»Erpresser!« murmelte Boris Palance und erhob sich
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