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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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vielversprechenden Kinde Mühe gibt.
    »Es gibt einen Partei-Wahlspruch bezüglich der Kontrolle der Vergangenheit«, sagte er.
    »›Wer die Vergangenheit kontrolliert, der kontrolliert die Zukunft; wer die Gegenwart kontrolliert, der kontrolliert die Vergangenheit‹«, wiederholte Winston folgsam.
    »›Wer die Gegenwart kontrolliert, der kontrolliert die Vergangenheit‹«, sagte O'Brien mit einem zustimmenden Kopfnicken.
    »Sie sind der Meinung, Winston, daß die Vergangenheit eine tatsächliche Existenz hat?«
    Wieder bemächtigte sich Winstons das Gefühl der Hilflosigkeit. Seine Augen suchten rasch die Skala.
    Nicht nur wußte er nicht, ob »ja« oder »nein« die richtige Antwort war, die ihn vor Schmerz bewahren würde; er wußte nicht einmal, welche Antwort ihm die richtige schien.
    O'Brien lächelte leise. »Sie sind kein Metaphysiker, Winston«, sagte er. »Bis jetzt hatten Sie nie in Betracht gezogen, was mit Existenz gemeint ist. Ich will es deutlicher ausdrücken. Existiert die Vergangenheit konkret – im Raum? Gibt es irgendwo einen Ort, eine Welt greifbarer Dinge, wo die Vergangenheit noch in Erscheinung tritt?«
    »Nein.«
    »Wo dann existiert die Vergangenheit, wenn überhaupt?«
    »In Aufzeichnungen. Sie ist niedergeschrieben.«
    »In Aufzeichnungen. Und –?«
    »Im Denken. Im Gedächtnis der Menschen.«
    »Im Gedächtnis. Nun, dann also gut. Wir, die Partei, kontrollieren alle Aufzeichnungen, und wir kontrollieren alle Erinnerungen. Demnach also kontrollieren wir die Vergangenheit, oder nicht?«
    »Aber wie könnt ihr die Menschen daran hindern, sich an Dinge zu erinnern?« rief Winston, der wieder einen Augenblick die Skala vergaß. »Es geschieht unwillkürlich. Man kann nichts dagegen tun. Wie könnt ihr das Gedächtnis kontrollieren? Meines habt ihr nicht kontrolliert!«
    O'Briens Verhalten wurde wieder streng. Er legte die Hand auf die Zahlenscheibe.
    »Umgekehrt«, sagte er. » Sie haben es nicht kontrolliert. Das hat Sie hierher gebracht. Sie sind hier, weil Sie es an Demut, an Selbstdisziplin haben fehlen lassen. Sie wollten den Akt der Unterwerfung nicht vollziehen, der der Preis ist für geistige Gesundheit. Sie zogen es vor, ein Verrückter, eine Minderheit von einem einzelnen zu sein. Nur der geschulte Geist erkennt die Wirklichkeit, Winston. Sie glauben, Wirklichkeit sei etwas Objektives, äußerlich Vorhandenes, aus eigenem Recht Bestehendes. Auch glauben Sie, das Wesen der Wirklichkeit sei an sich klar. Wenn Sie sich der Selbsttäuschung hingeben, etwas zu sehen, nehmen Sie an, jedermann sehe das gleiche wie Sie. Aber ich sage Ihnen, Winston, die Wirklichkeit ist nicht etwas an sich Vorhandenes. Die Wirklichkeit existiert im menschlichen Denken und nirgendwo anders. Nicht im Denken des einzelnen, der irren kann und auf jeden Fall bald zugrunde geht: nur im Denken der Partei, die kollektiv und unsterblich ist. Was immer die Partei für Wahrheit hält, ist Wahrheit.
    Es ist unmöglich, die Möglichkeit anders als durch die Augen der Partei zu sehen. Diese Tatsache müssen Sie wieder lernen, Winston. Dazu bedarf es eines Aktes der Selbstaufgabe, eines Willensaufwandes. Sie müssen sich demütigen, ehe Sie geistig gesund werden können.«
    Er wartete ein paar Augenblicke, wie um das Gesagte erst einmal wirken zu lassen.
    »Erinnern Sie sich«, fuhr er fort, »in Ihr Tagebuch geschrieben zu haben: ›Freiheit ist die Freiheit zu sagen, daß zwei und zwei vier ist‹?«
    »Ja«, sagte Winston.
    O'Brien hob seine linke Hand hoch, den Handrücken Winston zugekehrt, den Daumen versteckt und die vier Finger ausgestreckt.
    »Wie viele Finger halte ich empor, Winston?«
    »Vier.«
    »Und wenn die Partei sagt, es seien nicht vier, sondern fünf – wie viele sind es dann?«
    »Vier.«
    Das Wort endete mit einem Schmerzensschrei. Der Zeiger der Zahlenscheibe schnellte auf fünfundfünfzig hoch. Winston war am ganzen Leib der Schweiß aus allen Poren getreten. Die Luft drang in seine Lungen und brach als dumpfes Stöhnen wieder daraus hervor, dem er sogar nicht durch Zusammenbeißen der Zähne Einhalt gebieten konnte. O'Brien beobachtete ihn, noch immer die vier Finger erhoben. Er zog den Hebel zurück. Diesmal wurde der Schmerz nur um ein geringes gemildert.
    »Wie viele Finger, Winston?«
    »Vier.«
    Die Nadel stieg auf sechzig.
    »Wie viele Finger, Winston?«
    »Vier, vier! Was kann ich denn anderes sagen? Vier!«
    Die Nadel mußte noch einmal geklettert sein, aber er sah nicht hin. Er

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