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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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hatte nur das ernste, strenge Gesicht und die vier Finger vor Augen. Die Finger erhoben sich vor seinen Augen wie Säulen, riesig, verschwommen und scheinbar schwankend, aber unverkennbar vier.
    »Wie viele Finger, Winston?«
    »Vier! Hören Sie auf, hören Sie auf! Nicht mehr weiter! Vier!«
    »Wie viele Finger, Winston?«
    »Fünf! Fünf! Fünf!«
    »Nein, Winston, das hat keinen Zweck. Sie lügen. Sie glauben noch immer, es seien vier. Wie viele Finger, bitte?«
    »Vier! Fünf! Vier! Was Sie wollen. Nur hören Sie auf, hören Sie auf mit der Quälerei!«
    Unversehens saß er aufgerichtet da. O'Briens Arm um seine Schultern gelegt. Er hatte vielleicht ein paar Sekunden das Bewußtsein verloren gehabt. Die Fesseln, die seinen Körper niedergehalten hatten, waren gelockert. Er fror heftig, schlotterte haltlos, seine Zähne klapperten, und Tränen rollten seine Wangen herab.
    Einen Augenblick klammerte er sich an O'Brien wie ein kleines Kind, seltsam getröstet durch den um seine Schultern gelegten schweren Arm. Er hatte das Gefühl, O'Brien sei sein Beschützer, der Schmerz sei etwas von außen, von einer anderen Quelle Kommendes, und O'Brien werde ihn davor beschirmen.
    »Sie sind langsam im Lernen, Winston«, sagte O'Brien sanft.
    »Was kann ich dagegen machen?« stieß er unter Schmerzen hervor. »Was kann ich dagegen machen, daß ich sehe, was ich vor Augen habe? Zwei und zwei macht vier.«
    »Manchmal, Winston. Manchmal macht es fünf. Manchmal drei.
    Manchmal alles zusammen. Sie müssen sich mehr Mühe geben. Es ist nicht leicht, vernünftig zu werden.«
    Er legte Winston auf das Streckbett nieder. Seine Glieder wurden wieder umklammert, aber der Schmerz war abgeflaut, und das Zittern hatte aufgehört; er fühlte sich nur noch kalt und schwach. O'Brien gab mit dem Kopf dem Mann im weißen Mantel ein Zeichen, der während des ganzen Verhörs unbeweglich dagestanden hatte. Der Mann im weißen Mantel beugte sich hinunter und blickte aufmerksam in Winstons Augen, befühlte seinen Puls, legte ein Ohr an seine Brust, klopfte ihn da und dort ab. Dann nickte er O'Brien zu.
    »Noch einmal«, sagte O'Brien.
    Der Schmerz durchflutete Winstons Körper. Der Zeiger mußte auf siebzig, fünfundsiebzig stehen.
    Diesmal hatte Winston die Augen geschlossen. Er wußte, daß die Finger noch immer erhoben und daß es noch immer vier waren. Es kam nur darauf an, irgendwie am Leben zu bleiben, bis der krampfartige Schmerz vorüber war. Er war sich nicht mehr bewußt, ob er schrie oder nicht. Der Schmerz ließ wieder nach. Er öffnete die Augen. O'Brien hatte die Hebel zurückgedreht.
    »Wie viele Finger, Winston?«
    »Vier. Ich glaube, es sind vier. Ich würde fünf sehen, wenn ich könnte. Ich versuche, fünf zu sehen.«
    »Was wollen Sie: mir einreden, Sie sähen fünf, oder sie wirklich sehen.«
    »Sie wirklich sehen.«
    »Noch einmal«, sagte O'Brien.
    Der Zeiger war vielleicht bei achtzig, neunzig. Winston konnte sich nur in Abständen entsinnen, warum der Schmerz da war. Hinter seinen verdrehten Augenlidern schien ein Wald von Fingern sich in einer Art Tanz zu bewegen, sich zu verflechten und wieder aufzulösen, einer hinter dem anderen zu verschwinden und wieder zu erscheinen. Er versuchte, sie zu zählen, ohne sich erinnern zu können, warum er das tat. Er wußte, daß es unmöglich war, sie zu zählen, und daß das irgendwie mit der geheimnisvollen Gleichheit zwischen fünf und vier zusammenhing. Der Schmerz ließ wieder nach. Als er die Augen öffnete, sah er noch immer das gleiche: zahllose Finger glitten immer noch wie sich bewegende Bäume wechselweise nach beiden Seiten vorüber. Er schloß wieder die Augen.
    »Wie viele Finger halte ich hoch, Winston?«
    »Ich weiß nicht, weiß es nicht. Sie töten mich, wenn Sie noch einmal einschalten. Vier, fünf, sechs – ganz ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«
    »Schon besser«, sagte O'Brien.
    Eine Nadel drang in Winstons Arm. Fast im gleichen Augenblick durchflutete eine wonnige, wohltuende Wärme seinen ganzen Körper. Der Schmerz war bereits halbwegs vergessen. Er öffnete die Augen und blickte dankbar zu O'Brien. empor. Beim Anblick dieses ernsten, tiefgefurchten Gesichts, das so häßlich und so klug war, schien sich ihm das Herz umzudrehen. Hätte er sich bewegen können, er hätte eine Hand ausgestreckt und sie auf O'Briens Arm gelegt. Noch nie hatte er ihn so tief geliebt wie in diesem Augenblick, und nicht nur deshalb, weil er den Schmerz abgestellt hatte. Das alte

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