1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
Regentag, an dem das Wasser die Fensterscheibe herunterströmte und das Licht im Zimmer zum Lesen zu trübe war. Die Langeweile der beiden Kinder in dem dunklen engen Raum wurde unerträglich. Winston greinte und quengelte, verlangte vergeblich etwas zu essen, fuhrwerkte im Zimmer herum, wobei er alles von der Stelle rückte und der Wandvertäfelung Fußtritte versetzte, bis die Nachbarn an die Wand klopften, während das jüngere Kind zwischendurch jammerte. Am Schluß hatte seine Mutter gesagt: »Sei jetzt brav, und ich kauf dir ein Spielzeug. Ein schönes Spielzeug – es wird dir gefallen.«Und dann war sie in den Regen hinausgegangen zu einem kleinen Kramladen in der Nachbarschaft, der noch immer zeitweise geöffnet hatte, und kam mit einer Pappschachtel zurück, die eine vollständige Zusammensetzung eines Wettrennspiels enthielt. Er konnte sich noch an den Geruch des muffigen Pappdeckels erinnern. Das Ganze war jammervoll. Die Pappe hatte Sprünge, und die winzigen Holzwürfel waren so ungleichmäßig geschnitzt, daß sie kaum auf ihren Flächen liegenbleiben wollten. Winston betrachtete das Spiel mürrisch und teilnahmslos. Aber dann zündete seine Mutter einen Kerzenstummel an, und sie setzten sich zum Spiel auf den Boden. Bald glühte er vor Erregung und schrie vor Lachen, wenn die Spielmarken hoffnungsvoll vorrückten und dann wieder fast bis zum Einsatz zurückgestellt werden mußten. Sie spielten acht Spiele, wobei jeder vier gewann. Sein Schwesterchen, das zu klein war, um etwas von dem Spiel zu verstehen, hatte, an ein Polster gelehnt, dagesessen und gelacht, weil die anderen lachten. Einen ganzen Nachmittag hindurch waren sie alle miteinander glücklich gewesen, wie in seiner früheren Jugend.
Er verbannte das Bild aus seinen Gedanken. Es war eine falsche Erinnerung. Gelegentlich suchten ihn falsche Erinnerungen heim. Sie schadeten nichts, solange man sie als das erkannte, was sie waren. Manche Dinge hatten sich zugetragen, andere hatten sich nicht zugetragen. Er wandte sich wieder dem Schachbrett zu und ergriff erneut den weißen Springer. Fast im gleichen Augenblick fiel er mit Geklapper hinunter auf das Spielbrett. Er war zusammengefahren, als habe man ihm eine Nadel hineingerammt.
Ein schriller Trompetenstoß hatte die Luft durchdrungen. Es war der Tagesbericht! Sieg! Es bedeutete immer einen Sieg, wenn ein Trompetenstoß den Nachrichten vorherging. Sogar die Kellner waren zusammengeschreckt und spitzten die Ohren.
Der Trompetenstoß hatte einen riesigen Aufwand von Lärm entfesselt. Schon schnatterte eine aufgeregte Stimme aus dem Televisor, aber bereits als sie loslegte, ging sie beinahe in einem Hurragebrüll von draußen unter. Die Neuigkeit hatte sich wie durch Zauberei in den Straßen verbreitet. Er konnte gerade genug von dem, was der Televisor verkündete, hören, um zu merken, daß alles so, wie von ihm vorausgesehen, gekommen war; eine große, übers Meer gekommene Kriegsflotte war insgeheim zusammengezogen und ein plötzlicher Schlag gegen die feindliche Nachhut geführt worden, der weiße Pfeil spaltete das Ende des schwarzen Bruchstücke triumphierender Phrasen behaupteten sich gegen den Lärm: »Großes strategisches Manöver – vollendete Zusammenarbeit – wilde Flucht des Feindes auf der ganzen Linie – eine halbe Million Gefangene – vollkommene Auflösung – Kontrolle über ganz Afrika – das Kriegsende in absehbare Nähe gerückt – größter Sieg in der menschlichen Geschichte – Sieg, Sieg, Sieg!«
Winstons Füße machten unter dem Tisch krampfhafte Bewegungen. Er hatte sich nicht von seinem Platz gerührt, aber in Gedanken rannte er, rannte rasch, war mit der Menge draußen und schrie sich mit Hochrufen heiser. Wieder blickte er zu dem Bildnis des Großen Bruders empor. Der Koloß, der seine Arme schützend über die ganze Welt breitete! Der Felsen, gegen den die asiatischen Horden vergeblich anrannten! Er überlegte, wie noch vor zehn Minuten – ja, nur vor zehn Minuten – ein Schwanken in seinem Herzen gewesen war, als er sich fragte, ob die Meldung von der Front Sieg oder Niederlage lauten würde. Ach, mehr als ein eurasisches Heer war untergegangen! Viel hatte sich in ihm geändert seit jenem ersten Tag im Ministerium für Liebe, aber die endgültige, notwendige, heilende Wandlung war bis zu diesem Augenblick nicht erfolgt.
Die Stimme aus dem Televisor sprudelte noch immer ihren Bericht von Gefangenen, Beute und Gemetzel, aber das Geschrei draußen hatte
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