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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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nicht aber Lebenden. Genosse Ogilvy, der nie in der Gegenwart gelebt hatte, lebte jetzt in der Vergangenheit, und wenn erst einmal die Tatsache der Fälschung vergessen war, würde er ebenso authentisch und ebenso nachweislich vorhanden sein wie Karl der Große oder Julius Cäsar.

Fünftes Kapitel
    In der tief unter der Erde liegenden, niedrigen Kantine rückte die Schlange der Mittagsgäste nur langsam voran. Der Raum war bereits gedrängt voll, und es herrschte ein betäubender Lärm. Von dem Herd hinter dem Ausgabetisch stieg der dicke Dampf eines Eintopfgerichts auf, mit einem säuerlich-metallischen Geruch, der die Dünste des Victory-Gins nicht ganz überdeckte. Am Ende des langen Raumes nämlich befand sich eine kleine Bar, nur eben eine Nische in der Wand, wo man ein großes Glas Gin für zehn Cents kaufen konnte.
    »Da ist ja der Mann, den ich suche«, sagte eine Stimme hinter Winstons Rücken.
    Er drehte sich um. Es war sein Freund Syme, der in der Forschungsabteilung arbeitete. Vielleicht war »Freund« nicht ganz das richtige Wort. Man hatte heutzutage keine Freunde, man hatte Kameraden; aber es gab Kameraden, deren Gesellschaft angenehmer war als die anderer. Syme war Sprachwissenschaftler, ein Spezialist für »Neusprache«. Er gehörte zu der riesigen Gruppe von Fachleuten, die jetzt mit der Zusammenstellung der elften Ausgabe des Wörterbuchs der Neusprache betraut waren. Er war ein winziges Kerlchen, kleiner als Winston, mit dunklem Haar und großen, hervortretenden Augen, die traurig und spöttisch zugleich dreinblickten und im Gespräch das Gesicht des Gegenübers genau zu durchforschen schienen.
    »Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht ein paar Rasierklingen hast«, sagte er.
    »Nicht eine!« versicherte Winston mit gleichsam schuldbewußter Hast. »Ich habe überall welche aufzutreiben versucht. Es gibt keine mehr.«
    Beständig wurde man von allen Leuten nach Rasierklingen gefragt. In Wirklichkeit hatte Winston noch zwei unbenutzte gehortet. Seit Monaten schon herrschte Mangel an diesem Artikel. Alle Augenblicke fehlte es an einem notwendigen Gebrauchsartikel, den die Parteiläden nicht liefern konnten. Manchmal waren es Knöpfe, manchmal Stopfwolle, dann wieder Schnürsenkel; zur Zeit waren es Rasierklingen. Man konnte sie, wenn überhaupt, nur dadurch bekommen, daß man mehr oder weniger heimlich den »freien« Markt abgraste.
    »Ich habe seit sechs Wochen die gleiche Klinge benützt«, setzte Winston lügnerisch hinzu.
    Die Schlange machte einen neuen Ruck vorwärts. Erst als sie zum Stehen kam, drehte er sich wieder Syme zu. Jeder von ihnen nahm ein fettiges Metalltablett von einem auf der Ecke des Ausgabetisches stehenden hochaufgetürmten Stoß.
    »Hast du gestern zugeschaut, wie die Gefangenen aufgehängt wurden?« fragte Syme.
    »Ich hatte zu arbeiten«, sagte Winston leichthin. »Ich werde es mir wohl im Kino ansehen.«
    »Ein sehr ungenügender Ersatz«, meinte Syme und blickte Winston forschend an.
    Seine spöttischen Augen glitten über Winstons Gesicht. »Ich kenne dich!« schienen die Augen zu sagen.
    »Ich sehe durch dich hindurch. Ich weiß sehr wohl, warum du nicht hingegangen bist, um dir das anzusehen.« Auf eine intellektuelle Art und Weise war Syme verbissen orthodox. Er konnte mit einer unangenehm genießerischen Befriedigung von Bombenangriffen auf feindliche Dörfer, von den Gerichtsverhandlungen und Geständnissen der Gedankenverbrecher und den Hinrichtungen in den Kellern des Liebesministeriums sprechen. Wenn man sich mit ihm unterhalten wollte, so mußte man ihn vor allem von diesen Themen ablenken und ihn möglichst in ein Gespräch über die technischen Eigentümlichkeiten der Neusprache verwickeln, ein Thema, über das er fesselnd und voll Sachkenntnis plaudern konnte.
    Winston drehte den Kopf ein wenig zur Seite, um dem forschenden Blick der großen dunklen Augen zu entgehen.
    »Es war recht interessant, das Hängen«, sagte Syme in Erinnerung daran. »Ich finde, es beeinträchtigt die Sache sehr, wenn man ihnen die Füße zusammenbindet. Ich sehe sie gerne strampeln. Und vor allem muß am Schluß die Zunge herausblecken, blau – ganz zart hellblau. Das ist eine Einzelheit, die mir gefällt.«
    »Der nächste, bitte!« rief der weißbeschürzte Proles mit der Schöpfkelle.
    Winston und Syme schoben ihre Tabletts über den Ausgabetisch. Jedem wurde mit einem raschen Schwung seine Einheitsmahlzeit zugeteilt: ein Eßgeschirr voll eines rosagrauen Eintopfes, ein

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