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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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zeigten Winston zwei blanke Scheiben statt der Augen. Das etwas Gespenstische an der Sache war, daß es fast unmöglich war, ein einziges Wort des aus seinem Munde hervorbrechenden Redeschwalls zu verstehen. Nur einmal fing Winston einen Gesprächsfetzen auf: »– vollständige und endgültige Ausrottung des Goldsteinismus« – sehr rasch und gleichsam in einem Stück, wie eine fertiggegossene Druckzeile, hervorgestoßen. Der Rest war nur ein Geräusch, quak-quak-quak . Und doch konnte man, auch ohne zu verstehen, was der Mann sagte, sich über den Grundton nicht im Zweifel sein. Mochte er nun Goldstein beschuldigen und strengere Maßnahmen gegen Gedankenverbrecher und Saboteure fordern, mochte er gegen die Grausamkeiten der eurasischen Streitkräfte wettern, mochte er den Großen Bruder oder die Helden an der Malabar-Front lobpreisen – es blieb sich alles gleich. Man konnte sicher sein, was immer er sagte, daß jedes seiner Worte streng orthodox, reinster Engsoz war. Während Winston das augenlose Gesicht betrachtete, dessen Unterkiefer schnell auf- und zuklappte, hatte er ein merkwürdiges Gefühl, daß dies kein richtiger Mensch, sondern eine Art Puppe war. Hier sprach nicht das Gehirn eines Menschen, sondern sein Kehlkopf. Was dabei herauskam, bestand zwar aus Worten, aber es war keine menschliche Sprache im echten Sinne; es war ein unbewußt hervorgestoßenes, völlig automatisches Geräusch, wie das Quaken einer Ente.
    Syme war einen Augenblick verstummt und zeichnete mit dem Stiel seines Löffels ein Muster in die Eintopf-Reste. Die Stimme am Nebentisch quakte pausenlos weiter, gut hörbar trotz des großen Getöses ringsum.
    »Es gibt ein Wort in der Neusprache«, sagte Syme, »ich weiß nicht, ob du es kennst: Entenquak . Es ist eines von den interessantesten Wörtern, die zwei gegensätzliche Bedeutungen haben. Einem Gegner gegenüber angewandt, ist es eine Beschimpfung; gebraucht man es von jemandem, mit dem man einer Meinung ist, dann ist es ein Lob.«
    Fraglos wird Syme vaporisiert werden, dachte Winston von neuem. Er dachte es mit einem gewissen Bedauern, obwohl er genau wußte, daß Syme ihn verachtete und keineswegs besonders mochte, ja, daß er durchaus imstande war, ihn beim geringsten Anlaß als Gedankenverbrecher zu denunzieren. Etwas an Syme stimmte nicht ganz. Ihm fehlte etwas: Takt, Zurückhaltung, ein rettendes Quentchen Dummheit. Man konnte ihn nicht als unorthodox bezeichnen. Er glaubte an die Grundsätze des Engsoz , verehrte den Großen Bruder, jubelte über Siege, haßte Ketzer nicht nur eifrig und unermüdlich aus Überzeugung, sondern wohlinformiert, mit einem Scharfblick, wie ihn ein gewöhnliches Parteimitglied sonst nicht besaß. Dennoch hatte er immer etwas Anrüchiges.
    Er sagte Dinge, die besser ungesagt blieben, er hatte zu viele Bücher gelesen und war ein Stammgast im Café »Kastanienbaum«, dem Treffpunkt der Maler und Musiker. Es gab kein Gesetz, nicht einmal ein ungeschriebenes, das den Besuch dieses Cafés untersagte, und trotzdem war dieses Lokal einigermaßen übel beleumundet. Die alten, in Mißkredit geratenen Parteiführer hatten dort verkehrt, ehe sie schließlich liquidiert worden waren. Goldstein selbst, erzählte man sich, war dort vor Jahren oder Jahrzehnten manchmal gesehen worden. Symes Schicksal war unschwer vorauszusehen. Und doch war kein Zweifel, daß Syme, wenn er – und sei es auch nur für die Dauer von drei Sekunden – die wahre Natur von Winstons geheimen Absichten erkannt hätte, ihn sofort an die Gedankenpolizei verraten würde. Freilich hätte das auch jeder andere getan; aber Syme mit größerer Bestimmtheit als die meisten. Eifer allein genügte noch nicht. Der strenge Glaube handelte unbewußt.
    Syme blickte auf. »Da kommt Parsons«, sagte er und stützte seine Ellbogen auf die metallische Tischplatte.
    Etwas im Ton seiner Stimme schien hinzuzufügen: »Dieser blöde Kerl.« Tatsächlich bahnte sich Parsons, Winstons Wohnungsnachbar im Victory-Block, seinen Weg durch den Raum – ein dickbäuchiger, mittelgroßer Mann mit blondem Haar und einem froschartigen Gesicht. Mit fünfunddreißig Jahren setzte er bereits am Nacken und an den Hüften Fettpolster an, seine Bewegungen waren jedoch temperamentvoll und jungenhaft. Seine ganze Erscheinung war die eines hochaufgeschossenen Knaben, so sehr, daß man sich ihn – obwohl er den vorschriftsmäßigen Trainingsanzug trug – schwerlich anders als in den kurzen blauen Hosen, dem grauen Hemd und

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