1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
gelegentlich in der Times schreibst. Sie sind recht gut, aber es sind doch nur Übertragungen. Dein Herz hängt noch an der Altsprache, mit allen ihren Unklarheiten und unnützen Gedankenschattierungen. Dir geht die Schönheit der Wortvereinfachung nicht auf. Weißt du auch, daß die Neusprache die einzige Sprache der Welt ist, deren Wortschatz von Jahr zu Jahr kleiner wird?«
Nein, Winston wußte das nicht. Er lächelte, wie er hoffte, mit einem anerkennenden Ausdruck, ohne daß er zu sprechen wagte. Syme biß wieder ein Stück Schwarzbrot ab, kaute kurz und fuhr dann fort:
»Siehst du denn nicht, daß die Neusprache kein anderes Ziel hat, als die Reichweite des Gedankens zu verkürzen? Zum Schluß werden wir Gedankenverbrechen buchstäblich unmöglich gemacht haben, da es keine Worte mehr gibt, in denen man sie ausdrücken könnte. Jeder Begriff, der jemals benötigt werden könnte, wird in einem einzigen Wort ausdrückbar sein, wobei seine Bedeutung streng festgelegt ist und alle seine Nebenbedeutungen ausgetilgt und vergessen sind. Schon heute, in der Elften Ausgabe, sind wir nicht mehr weit von diesem Punkt entfernt. Aber der Prozeß wird immer weitergehen, lange nachdem wir beide tot sind. Mit jedem Jahr wird es weniger und immer weniger Worte geben, wird die Reichweite des Bewußtseins immer kleiner und kleiner werden. Auch heute besteht natürlich kein Entschuldigungsgrund für das Begehen eines Gedankenverbrechens. Es ist lediglich eine Frage der Selbstzucht, der Wirklichkeitskontrolle . Aber schließlich wird auch das nicht mehr nötig sein. Die Revolution ist vollzogen, wenn die Sprache geschaffen ist. Neusprache ist Engsoz , und Engsoz ist Neusprache«, fügte er mit einer Art geheimnisvoller Befriedigung hinzu. »Hast du schon einmal bedacht, Winston, daß um das Jahr 2050 kein Mensch mehr am Leben sein wird, der ein solches Gespräch, wie wir es eben führen, überhaupt verstehen könnte?«
»Außer –«, wollte Winston einwenden, aber er brach ab.
Es lag ihm auf der Zunge zu sagen: »Außer den Proles«, aber er hielt sich zurück, da er nicht ganz sicher war, ob eine solche Bemerkung nicht in gewisser Weise unorthodox gewesen wäre. Syme hatte jedoch erraten, was er sagen wollte.
»Die Proles sind keine Menschen«, sagte er beiläufig. »Mit dem Jahr 2050 – aber vermutlich schon früher – wird jede wirkliche Kenntnis der Altsprache verschwunden sein. Die gesamte Literatur der Vergangenheit wird vernichtet worden sein. Chaucer, Shakespeare, Milton, Byron werden nur noch in Neusprach-Fassungen vorhanden sein, und damit nicht einfach umgewandelt, sondern zu dem Gegenteil von dem verkehrt, was sie waren. Selbst die Parteiliteratur wird eine Wandlung erfahren. Sogar die Leitsätze werden anders lauten. Wie könnte ein Leitsatz wie ›Freiheit ist Sklaverei‹ bestehen bleiben, wenn der Begriff Freiheit aufgehoben ist? Das ganze Reich des Denkens wird anders sein. Es wird überhaupt kein Denken mehr geben – wenigstens was wir heute darunter verstehen. Strenggläubigkeit bedeutet: nicht mehr denken – nicht mehr zu denken brauchen. Strenggläubigkeit ist Unkenntnis.«
Eines Tages, dachte Winston plötzlich aus innerster Überzeugung, wird Syme vaporisiert werden. Er ist zu gescheit. Er sieht zu klar und spricht zu offen. Die Partei sieht solche Menschen nicht gerne. Eines schönen Tages wird er verschwinden. Es steht in seinem Gesicht geschrieben.
Winston war fertig mit seinem Brot und seinem Käse. Er drehte sich auf seinem Stuhl ein wenig zur Seite, um seinen Becher Kaffee zu trinken. Am Tisch links von ihm sprach der Mann mit der kreischenden Stimme noch immer unbarmherzig weiter. Eine junge Frau, vielleicht seine Sekretärin, die mit dem Rücken zu Winston dasaß, hörte ihm zu und schien allem, was er sagte, eifrig beizustimmen. Von Zeit zu Zeit fing Winston Bemerkungen auf wie »Ich glaube, Sie haben vollkommen recht, ich bin ganz Ihrer Meinung«, die eine jugendliche und ziemlich törichte Frauenstimme vorbrachte. Aber die andere Stimme schwieg keinen Augenblick still, auch nicht, wenn das Mädchen einmal sprach. Winston kannte den Mann vom Sehen, doch wußte er nicht mehr von ihm, als daß er einen wichtigen Posten in der Literaturabteilung bekleidete. Er war ein Mann von etwa dreißig Jahren, mit einem muskulösen Hals und einem großen, beweglichen Mund. Sein Kopf war ein wenig zurückgebeugt, und infolge des Winkels, in dem er dasaß, fingen seine Brillengläser das Licht auf und
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