Mr. Chartwell - Hunt, R: Mr. Chartwell
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8 Uhr 30
I n einem Reihenhaus in Battersea kam Esther Hammerhans die Treppe hinuntergefegt, einen Arm in der Strickjacke, die ihr um die Beine schlug, und drehte die Flamme zu. Der Kessel hörte zu pfeifen auf und stieß hysterische Dampfwolken aus. Esther nahm die Teekanne und goss heißes Wasser hinein, einen Teil davon über die Arbeitsplatte. Die Teeblätter vergaß sie, was ihr fünf Minuten später nach einer hochengagierten Geschirrspülaktion auffiel. »Idioten!«, beschimpfte sie die Teeblätter, warf sie ins Wasser und rührte mit einem Löffel um.
Erst jetzt zog sie die Strickjacke ganz an. Ein Schritt in die richtige Richtung, fand sie. Sie atmete kurz durch, um sich zu beruhigen. Es war wichtig, ruhig zu erscheinen. Mr. Chartwell konnte jeden Moment kommen, es war wichtig, dass er einen guten ersten Eindruck bekam. Zufrieden betrachtete sie die gelben Schranktüren und -schubladen, die sie vorher gescheuert hatte, gut zu den Wänden passend, die in einem helleren Gelb gestrichen waren und von einer Neonröhre an der Decke beleuchtet wurden. Der dunkelorange geflieste Boden war gewischt, die Gläser mit Gewürzen und getrockneten Kräutern ordentlich auf den abgestaubten weißglänzenden Regalen aufgereiht. Auf dem resopalbeschichteten blauen Küchentisch standen eine Vase mit Blumen und ein Kerzenständer aus Chrom, der den Eindruck erwecken sollte, sie benutze ihn jeden Tag. Zuckerwürfel füllten die einzige kleine Porzellandose, die nicht abgestoßen war. Die gesamte Dose sollte einen Hahn darstellen, aber der geschmacklose Deckel mit dem Hahnenkopf lag in der Besteckschublade.
Esther trat an den Spiegel neben dem Fenster und betrachtete sich, eine schmale Erscheinung mit langen Haaren und einem leichten Unterbiss. Zurzeit war sie noch dünner als gewöhnlich, man konnte förmlich durch sie hindurchgucken. Der Spiegel gab ein Lächeln zurück, in dem sich eine tiefe Müdigkeit ausdrückte, eine Schwermut hinter den Gesichtszügen. Weiteres Betrachten, beschloss Esther, würde den Gesamteindruck nicht verbessern.
Die Kammer, die sie vermieten wollte, hatte nicht viel zu bieten, aber immerhin einen Blick auf den Garten. Mit Tagesanbruch ergoss sich Licht in jeden Winkel, und dies würde die außerordentliche Sauberkeit des Raums zur Geltung bringen. Das gründliche Saugen hatte dem Teppich gutgetan: Er erstrahlte in sattem Ockergelb, der Farbe eines Stofflöwen. Eine Zierkachel hing über dem Bett an der Wand – handgemalt, ein Bergdorf in Griechenland, die weißen Häuser knallgrün und orange von Laubwerk umwogt, die dicken schwarzen Striche überall wie mit dem Daumen gezogen. Ihre Freundin Beth hatte ihr ein Einzelbett geliehen, ein sehr bescheidenes altes Möbel, aber mit frischen Laken und Decken versehen sah es nicht mehr ganz so dürftig aus. Die Glühbirne verschönte ein Weidenflechtschirm, erst vorige Woche gekauft, der dem Zimmer, fand Esther, eine stilvolle Note verlieh. Ein neuer Kleiderschrank vervollständigte die Verwandlung der Kammer in ein möbliertes Zimmer. Wenn nötig, wollte sie noch die gelegentliche Benutzung ihres Wagens obendrauf geben.
Aber – Enttäuschung – nur ein Interessent, ein gewisser Mr. Chartwell, hatte sich auf ihr Inserat gemeldet und gestern Abend stillschweigend einen Zettel bei ihr eingeworfen mit der Bitte, das Zimmer am Morgen besichtigen zu dürfen. Die ungelenken Krakel waren so fest in das Papier gedrückt, dass die Kommas durchstachen. Esther schienen die Zeilen von jemand geschrieben zu sein, der keinerlei Übung im Umgang mit einem Schreibgerät hatte, jemand, der es wie einen Pfosten hielt, den er in den Boden hämmern wollte. Nach dem Lesen hatte sie den Zettel in der Faust zerknüllt, weil sie bei der Vorstellung, ihr Haus mit jemand anders zu teilen, einem fremden Eindringling, plötzlich eine leichte Übelkeit überkam.
Vielleicht, dachte Esther, als sie jetzt im Wohnzimmer vor dem Plattenspieler stand, sollte sie eine Platte auflegen, um durchblicken zu lassen, dass sie zwar eine ruhige, aber auch eine moderne Vermieterin war. Mr. Chartwell mochte bestimmt gern Musik, er kannte wahrscheinlich die Hitparade. Die Rolling Stones waren momentan die Nummer eins mit »It’s All Over Now«, und Esther hatte sich die Single gekauft. Voller Zuversicht setzte sie die Nadel auf die Platte. Sofort gellte das Lied mit obszöner Lautstärke los, und Mick Jaggers Stimme zerfetzte ihr den Schädel. Esther riss den Tonarm zurück.
Mit dem Abbruch
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