1984
jeden und alles verraten. Fällt Ihnen auch nur eine einzige Demütigung ein, die Sie nicht durchgemacht haben?«
Winston hatte zu weinen aufgehört, wenn ihm auch noch die Tränen aus den Augen rannen. Er blickte zu O'Brien empor.
»Julia habe ich nicht verraten«, sagte er.
O'Brien blickte nachdenklich auf ihn hinunter. »Nein«, sagte er, »nein, das stimmt vollkommen. Sie haben Julia nicht verraten.«
Die merkwürdige Verehrung für O'Brien, die nichts erschüttern zu können schien, durchflutete wieder Winstons Herz. Wie klug, dachte er, wie weise! O'Brien versagte nie darin, zu verstehen, was man zu ihm sagte. Jeder andere Mensch auf dieser Welt hätte sogleich geantwortet, daß er Julia verraten habe . Denn was gab es, was sie unter der Folter nicht aus ihm herausgepreßt hatten? Er hatte ihnen alles gestanden, was er von ihr wußte, ihre Gewohnheiten, ihren Charakter, ihr bisheriges Leben. Er hatte bis zur kleinsten Einzelheit ausgesagt, was sich bei ihren Begegnungen abgespielt hatte, alles, was er zu ihr und sie zu ihm gesagt hatte; ihre Schwarzmarkt-Mahlzeiten, ihre Bettgemeinschaften, ihr unklares Pläneschmieden gegen die Partei – alles. Und doch, in dem Sinne, was er mit dem Wort ausdrücken wollte, hatte er sie nicht verraten. Er hatte nicht aufgehört, sie zu lieben; sein Gefühl ihr gegenüber war das gleiche geblieben.
O'Brien hatte erkannt, was er sagen wollte, ohne daß es einer Erklärung bedurft hätte.
»Sagen Sie mir«, fragte Winston, »wie bald wird man mich erschießen?«
»Es kann noch lange dauern«, sagte O'Brien. »Sie sind ein schwieriger Fall. Aber geben Sie die Hoffnung nicht auf. Jeder wird früher oder später geheilt. Am Schluß erschießen wir Sie.«
Viertes Kapitel
Es ging ihm viel besser. Mit jedem Tag, sofern man von Tagen sprechen konnte, wurde er dicker und kräftiger.
Das weiße Licht und der summende Ton waren unverändert geblieben, aber seine neue Zelle war ein wenig bequemer als die früheren. Auf der Holzpritsche lagen ein Kissen und eine Matratze, und es gab einen Schemel zum Sitzen. Man hatte ihm ein Bad genehmigt, und er durfte sich ziemlich häufig in einer Zinnwanne waschen. Man gab ihm dazu sogar warmes Wasser. Man hatte ihm neue Unterwäsche und einen sauberen Trainingsanzug gebracht. Hatte sein Krampfadergeschwür mit einer schmerzlindernden Heilsalbe verbunden. Die restlichen Zähne hatte man ihm gezogen und ein neues Gebiß eingesetzt.
Wochen oder Monate mußten verstrichen sein. Es wäre jetzt möglich gewesen auszurechnen, wie viel Zeit vergangen war, wenn er Wert darauf gelegt hätte, denn er bekam sein Essen in scheinbar regelmäßigen 124
George Orwell – 1984
Abständen. Seiner Schätzung nach erhielt er drei Mahlzeiten in vierundzwanzig Stunden; manchmal fragte er sich verschwommen, ob sie ihm nachts oder tags gebracht wurden. Das Essen war überraschend gut, zu jeder dritten Mahlzeit gab es Fleisch. Einmal bekam er sogar ein Päckchen Zigaretten. Er hatte keine Zündhölzer, aber der ewig stumme Wachmann, der ihm sein Essen brachte, würde ihm Feuer geben. Das erste Mal, als er zu rauchen versuchte, wurde ihm schlecht, aber er fuhr damit fort, und er reichte mit dem Päckchen eine lange Zeit, indem er nach jeder Mahlzeit eine halbe Zigarette rauchte.
Man hatte ihm eine weiße Schreibtafel mit einem an der Ecke angebundenen Bleistiftstumpf gegeben.
Zuerst machte er keinen Gebrauch davon. Sogar im Wachzustand döste er dumpf vor sich hin. Oft lag er von einer Mahlzeit bis zur nächsten fast bewegungslos da, manchmal schlafend, dann wieder wach in undeutlichen Träumereien versunken, bei denen es schon zuviel Mühe bedeutete, die Augen zu öffnen. Er hatte sich seit langem daran gewöhnt, bei grell in sein Gesicht scheinendem Licht zu schlafen. Es schien ihm nichts auszumachen, außer daß die Träume mehr Zusammenhang bekamen. Er träumte diese ganze Zeit hindurch viel, und immer waren es glückhafte Träume. Er weilte in dem Goldenen Land oder saß zwischen riesigen, prächtigen, sonnenbeschienenen Ruinen mit seiner Mutter, mit Julia, mit O'Brien – ohne etwas zu tun, sondern einfach so in der Sonne und plauderte von friedlichen Dingen. Soweit er überhaupt Gedanken hatte, wenn er wach lag, drehten sie sich meistens um seine Träume. Die Kraft zu einer geistigen Anstrengung schien ihm abhanden gekommen zu sein, jetzt, wo der Erregungsfaktor des Schmerzes nicht mehr mitwirkte. Er empfand keine Langeweile, verspürte kein Verlangen
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