1984
werden, so wie man einer Henne die Eier wegnimmt. Der Geschlechtstrieb wird ausgerottet. Die Zeugung wird eine alljährlich vorgenommene Formalität wie die Erneuerung einer Lebensmittelkarte werden. Wir werden das Wollustmoment abschaffen. Unsere Neurologen arbeiten gegenwärtig daran. Es wird keine Treue mehr geben, außer der Treue gegenüber der Partei. Es wird keine Liebe geben, außer der Liebe zum Großen Bruder. Es wird kein Lachen geben, außer dem Lachen des Frohlockens über einen besiegten Feind. Es wird keine Kunst geben, keine Literatur, keine Wissenschaft.
Wenn wir allmächtig sind, werden wir die Wissenschaft nicht mehr brauchen. Es wird keinen Unterschied geben zwischen Schönheit und Häßlichkeit. Es wird keine Neugier, keine Lebenslust geben. Alle Freuden des Wettstreits werden ausgetilgt sein. Aber immer – vergessen Sie das nicht, Winston – wird es den Rausch der Macht geben, die immer mehr wächst und immer raffinierter wird. Dauernd, in jedem Augenblick, wird es den aufregenden Kitzel des Sieges geben, das Gefühl, auf einem wehrlosen Feind herumzutrampeln.
Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft ausmalen wollen, dann stellen Sie sich einen Stiefel vor, der in ein Menschenantlitz tritt – immer und immer wieder.«
Er verstummte, so als erwarte er, daß Winston etwas sagen würde. Winston versuchte sich in die Oberfläche seines Streckbettes zu verkriechen. Er brachte kein Wort hervor. O'Brien fuhr fort:
»Und vergessen Sie nicht, daß das für immer gilt. Das Gesicht zum Treten wird immer da sein. Den Ketzer, den Feind der Gesellschaft, wird es immer geben, so daß er immer wieder besiegt und gedemütigt werden kann. Alles, was Sie durchgemacht haben, seitdem Sie uns in die Hände gerieten – alles das wird weitergehen, und noch schlimmer. Die Bespitzelung, der Verrat, die Verhaftungen, die Folterungen, die Hinrichtungen, die Verschleppungen werden nie aufhören. Es wird sowohl eine Welt des Schreckens als des Triumphes sein. Je mächtiger die Partei ist, desto weniger duldsam wird sie sein: je schwächer die Opposition, desto unerbittlicher die Gewaltherrschaft. Goldstein und seine Irrlehren werden ewig in der Welt sein. Jeden Tag, jeden Augenblick werden sie zunichte gemacht, beschimpft, verlacht, bespuckt werden
– und doch werden sie immer bleiben. Das Drama, das ich mit Ihnen sieben Jahre hindurch aufgeführt habe, wird wieder und wieder, Generation um Generation, in immer raffinierteren Formen gespielt werden.
Immer werden wir den Abtrünnigen auf Gnade oder Ungnade uns hier ausgeliefert haben, wie er vor Schmerz schreit, schwach und verräterisch wird – um am Schluß rückhaltlos bereuend, vor sich selbst 121
George Orwell – 1984
gerettet, aus eigenem Antrieb uns vor die Füße zu kriechen. Diese Welt streben wir an, Winston. Eine Welt, in der Sieg auf Sieg, Triumph auf Triumph folgt: ein nicht endender Kitzel des Machtnervs. Wie ich sehen kann, fangen Sie zu begreifen an, wie diese Welt aussehen wird. Aber am Schluß werden Sie mehr tun, als sie nur begreifen. Sie werden sie begrüßen, sie willkommen heißen, sich zu ihr bekennen.«
Winston hatte sich genügend erholt, um sprechen zu können. »Das könnt ihr nicht!« sagte er schwach.
»Was wollen Sie mit dieser Bemerkung sagen, Winston?«
»Ihr könnt keine solche Welt schaffen, wie Sie sie soeben geschildert haben.«
»Warum?«
»Es ist unmöglich, eine Kultur auf Furcht, Haß und Grausamkeit aufzubauen. Sie würde nie Bestand haben.«
»Warum nicht?«
»Sie hätte keine Lebensfähigkeit. Sie würde sich auflösen. Sie würde Selbstmord begehen.«
»Unsinn. Sie stehen unter dem Eindruck, Haß sei aufreibender als Liebe. Warum sollte dem so sein? Und wenn, was würde es ausmachen? Angenommen, wir hätten beschlossen, uns rascher zu verbrauchen.
Angenommen, wir beschleunigen das Tempo des Menschenlebens, bis die Menschen mit dreißig Jahren altersschwach sind. Was würde selbst dadurch geändert? Können Sie nicht begreifen, daß der Tod des einzelnen nicht den Tod der Partei bedeutet? Die Partei ist unsterblich.«
Wie gewöhnlich, hatte die Stimme Winston zu völliger Hilflosigkeit niedergeschmettert. Außerdem fürchtete er, O'Brien würde, wenn er auf seinem Widerspruch beharrte, wieder den Hebel drehen. Und doch konnte er nicht schweigen. Schwach wie er war, ohne Beweisgründe, mit nichts zu seiner Unterstützung außer seinem unaussprechlichen Grauen vor dem, was O'Brien gesagt hatte, griff er erneut
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