GK394 - Der Magma-Mann
Es war ein typisches Allerheiligen-Wetter. Feucht. Neblig. Kühl. Ein trister Tag ohne Sonnenschein. Naß glänzte der Asphalt auf den Fahrwegen des Brompton Cemetery. Welkes Laub lag auf den Gräbern. In vielen Laternen flackerten Kerzen zum Gedenken an die Toten.
Es schien, als würde es an diesem Tag früher dunkel werden.
Shirley Buzzell fröstelte. Sie stellte den pelzbesetzten Kragen ihres warmen Herbstkostüms auf und blickte in Gedanken versunken auf den gepflegten Grabhügel.
Ohne die Lippen zu bewegen verrichtete sie ihr Gebet.
Nachdem sie sich bekreuzigt hatte, schaute sie sich um. Die Friedhofsbesucher hatten den Gottesacker bereits verlassen. Unheimlich still war es um die junge Frau.
Zwischen den Grabsteinen tanzten graue Nebelfetzen. Wie Gespenster sahen sie aus. Shirley Buzzell nagte nervös an ihrer Lippe. Sie stand vor dem Grab ihrer Schwiegermutter, der Mutter ihres Mannes, von dem sie seit drei Monaten getrennt lebte.
Shirley hatte die alte Dame sehr gern gehabt. Sie hatte sie aufopfernd gepflegt und ihr die Augen geschlossen, als es mit ihr zu Ende gegangen war.
Seit drei Monaten hatte sie Ray, ihren Mann, nicht mehr gesehen. Er hatte auch nichts mehr von sich hören lassen. Erst heute hatte er sie angerufen.
»Besuchst du das Grab meiner Mutter?« hatte er gefragt.
»Selbstverständlich. Oder hast du etwas dagegen?«
Er hatte gelacht. »Warum sollte ich? Ihr habt euch immer gut vertragen. Du bist mit meiner Mutter besser ausgekommen als ich. Weiß der Teufel, woran das gelegen hat.«
»Vielleicht lag es an dir, Ray.«
»Vermutlich. Naja. Vorbei ist vorbei. Man kann nichts mehr ungeschehen machen. Ich kann nur noch Blumen auf ihr Grab legen und sie bitten, mir zu verzeihen.«
Shirley staunte. »So hast du schon lange nicht mehr gesprochen, Ray.«
»Ich habe heute meinen melancholischen Tag.«
Es war seine Schuld, daß sie getrennt waren. Doch nun glaubte Shirley zum erstenmal wieder hoffen zu dürfen. Vielleicht kehrte Ray zu ihr zurück. Sie brauchte ihn. Sie war hilflos ohne ihn, fühlte sich den Unbillen des Lebens schutzlos ausgeliefert. Man konnte sie leicht verletzen, wenn sie ihren Mann nicht an ihrer Seite hatte.
Vielleicht wird wieder alles wie früher, hatte sie gedacht.
»Wirst du auch auf den Friedhof kommen?« hatte Shirley gefragt.
»Ich würde dich gern treffen, Shirley. Ich glaube, wir haben eine Menge zu klären. Es gab Mißverständnisse. Ich hatte viel Zeit, über uns nachzudenken. Es tut mir leid, daß es mit uns so weit gekommen ist. Vielleicht läßt sich unsere Ehe noch reparieren. Was meinst du?«
»Ich denke, dafür ist es noch nicht zu spät.«
»Wollen wir uns auf dem Friedhof treffen?«
»Okay, Ray. Wann?«
»Siebzehn Uhr.«
»Geht es nicht früher? Es wird so schnell dunkel, und ich habe Angst vor der Finsternis. Außerdem wird der Friedhof bei Einbruch der Dunkelheit geschlossen.«
»Ich kann hier nicht früher weg.«
»Na schön. Dann um siebzehn Uhr«, hatte Shirley Buzzell gesagt, und nun stand sie hier vor dem Grab ihrer Schwiegermutter und bereute, diese Verabredung getroffen zu haben. Es wäre vernünftiger gewesen, in einem nahe gelegenen Lokal auf Ray zu warten. Er war sehr unpünktlich. Daran hatte sich in den vergangenen drei Monaten wohl kaum etwas geändert.
Ihre Nervosität wuchs.
Die Nebelfetzen krochen näher heran.
Shirley Buzzell hatte das unangenehme Gefühl, beobachtet, belauert zu werden. Ab und zu raschelte das dürre Laub, und sie zuckte erschrocken zusammen. Einen unheimlicheren Ort für ein Rendezvous gab es kaum noch.
Shirley blickte auf ihre Uhr. Es war schon halb sechs. Ihr war kalt. Sie fürchtete sich. Wenn Ray in den nächsten fünf Minuten nicht eintreffen würde, würde sie den Friedhof verlassen. Bestimmt würde sie dann schon laufen müssen, damit man sie nicht auf dem Gottesacker einschloß.
Die Dämmerung schritt rasch fort.
Plötzlich ein Geräusch. Ganz in der Nähe.
Shirley stockte der Atem. Sie kreiselte herum und glaubte eine Gestalt hinter einen hohen Grabstein verschwinden zu sehen. Ihr Herz trommelte aufgeregt gegen die Rippen.
Sie mußte sich zusammenreißen.
Tapfer kämpfte sie gegen die Panik an, die sie überfluten wollte.
»Ray?« fragte sie. Ihre Stimme klang heiser. »Ray, bist du das?«
Sie erhielt keine Antwort, und sie fragte sich, ob Ray so etwas Dummes tun würde. Er wußte doch, wie ängstlich sie war, und auf dem Friedhof verdoppelte sich ihre Furcht.
Hatte sie sich
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