1177 - Der Weg in die Unterwelt
Wer immer sich dort draußen aufhielt, er wollte nicht mehr länger warten, er hatte endlich den Weg zu ihr gefunden, und Grace ging davon aus, dass ihm keine andere Möglichkeit geblieben war.
Sie stand auf.
Plötzlich klappte es. Die Starre verschwand. Doch das Gefühl, eine alte Frau zu sein, blieb. Sie konnte nichts dagegen tun.
Grace schaute sich um.
Es war dunkel und trotzdem nicht finster. Sie war in der Lage, Gegenstände zu erkennen. Die Wände unterschieden sich vom Fußboden, das war alles okay, und sie sah auch die beiden Fässer nahe der Tür. Ihren Inhalt kannte sie nicht. Grace hatte sich auch niemals dafür interessiert, aber in diesem Moment suchte sie nach einem Ausweg aus dieser fatalen Lage.
Sie waren da!
Und Grace Turner glaubte fest daran, dass genau sie es waren und keine anderen. Schließlich hatte sie dazu beigetragen, dass sie kamen, und nur so etwas zählte. Sie hatte es genau wissen wollen, und sie hatte auch nicht auf die Warnungen gehört. Dabei waren sie sehr intensiv gewesen, wenn auch auf eine bestimmte Art und Weise abstrakt. Aber Melody hatte sich damit hervorgetan und einfach nicht locker gelassen.
Es war wieder still geworden. Grace hob die rechte Hand und wischte damit über ihre Stirn. Wie dickes Wasser hatte der Schweiß auf der Haut geklebt, und sie spürte ihn nicht nur auf ihrem Gesicht, sondern auch auf dem Körper. Ein feuchter Geruch hielt sich zwischen den alten Holzwänden.
Es war ebenso feucht wie der unheimliche Nebel, der dick über dem Wasser lag.
Grace verfluchte sich selbst. Nie hätte sie sich auf dieses Abenteuer einlassen sollen. Aber sie hatte es Melody zuliebe getan. Sogar jetzt hoffte sie noch, dass es der richtige Weg gewesen war.
Oder war es der Weg in die Hölle?
Auch das konnte möglich sein. Kinder hatten oft eine irre Phantasie. Doch dabei musste es nicht unbedingt bleiben. Oft mischten sich Realität und Phantasie bei ihnen, und so wusste man nie genau, was stimmte und was nicht.
Bei Melody stimmte es. Sie hatte es gesehen. Sie hatte Angst bekommen. Sie war indirekt bedroht worden, und auch Grace spürte diese Bedrohung wie eine Klammer.
Das Klopfen hatte sich nicht mehr wiederholt. Trotzdem atmete Grace nicht auf. Wer immer da auf sie wartete, er würde nicht aufgeben. Dazu war er nicht geboren.
Die Stille blieb. Sie hatte sich wie ein Netz über den Raum gehängt, und seine Maschen verdichteten sich. Grace Turner wusste, dass sie nicht in einem normalen Haus stand, sondern in einer Blockhütte, zu der es praktisch nur einen normalen Zugang gab. Wollte man sie von den anderen drei Seiten erreichen, musste man über das Wasser.
Genau das war das Problem. Nicht dass sie Angst davor gehabt hätte, in ein Boot zu steigen und zu rudern, nein, da kam noch etwas anderes hinzu.
Das Wasser war gefährlich. Es war so dunkel, schwarz und unheimlich. In seiner Tiefe schien sich all das Grauen zu verbergen, das einer bösen Welt zur Verfügung stand. Davor hatte sie Furcht. Sie wollte nicht, dass das Wasser sie holte. Trotzdem war sie hergekommen. Den Gefallen hatte sie Melody einfach tun müssen. Das zumindest war sie ihr als Mutter schuldig. Als Alleinerziehende machte sich Grace immer wieder die schlimmsten Vorwürfe, etwas falsch gemacht zu haben, sodass gewisse Dinge die Erziehung des Kindes störten. Melody war zwölf, sie war anders als viele ihrer Altersgenossinnen. Sie hatte unter anderem eine irre Phantasie, aber man wusste bei ihr nicht, was Phantasie war und was nicht.
Das hatte Grace herausfinden wollen. Und nun befand sie sich in dieser verdammten Hütte am See.
Auf die Uhr hatte Grace Turner nicht geschaut. Deshalb wusste sie auch nicht, wie viel Zeit verstrichen war, seit sie das erste dumpfe Klopfen gehört hatte.
Waren sie weg?
Fast hätte sie über ihre eigenen Gedanken gelacht. Nein, daran glaubte sie nicht. Sie waren nicht weg. Nicht sie, und nicht, wenn es die Gestalten waren, von denen Melody berichtet hatte. Sie warteten, sie hatten Zeit.
Nicht jedoch Grace Turner!
Es war gleich Mitternacht. Noch zehn Minuten und nicht länger.
Grace Turner wusste selbst nicht, weshalb sie gerade vor Mitternacht das Haus noch verlassen wollte.
»Eine Minute«, flüsterte sie. »Nur noch eine Minute. Sechzig Sekunden warten…«
Für Grace war das kein Leben mehr, sondern nur noch ein Zustand, den sie so schnell wie möglich abstellen wollte.
Die Minute war um!
»Mum, ich kenne den Weg in die Hölle! Ja, ich habe ihn gesehen, ob
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