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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Gedanke schoß Winston durch den Kopf, daß ein künstlich zusammengenähtes Gesicht vielleicht seinen Ausdruck verändern konnte. Ohne ein Wort oder einen Gruß ging Martin hinaus, indem er leise die Tür hinter sich schloß. O'Brien schlenderte auf und ab, eine Hand in der Tasche seines schwarzen Trainingsanzugs, in der anderen die Zigarette.
    »Sie werden verstehen, daß Sie im Dunkeln kämpfen werden. Sie werden immer im Dunkeln sein. Sie erhalten Befehle und haben ihnen zu gehorchen, ohne das Warum zu wissen. Später werde ich Ihnen ein Buch senden, aus dem Sie die wahre Natur der Gesellschaftsordnung, in der wir leben, und die strategischen Maßnahmen, durch die wir sie zerstören wollen, kennenlernen. Wenn Sie das Buch gelesen haben, sind Sie in die Brüderschaft als Mitglieder aufgenommen. Aber abgesehen von den allgemeinen Zielen, für die wir kämpfen, und den jeweiligen augenblicklichen Aufgaben, werden Sie nie etwas wissen. Ich sage Ihnen, daß die Brüderschaft existiert, aber ich kann Ihnen nicht sagen, ob ihre Mitgliederzahl hundert oder zehn Millionen beträgt. Aus Ihrem persönlichen Wissen heraus werden Sie nie imstande sein zu sagen, ob sie auch nur ein Dutzend Anhänger hat. Sie werden drei oder vier Mittelsmänner kennen, die von Zeit zu Zeit ersetzt werden, je nachdem sie verschwinden. Da ich der erste bin, mit dem Sie in Berührung kamen, bleibt es dabei. Wenn Sie Befehle erhalten, kommen sie von mir. Wenn wir es für nötig befinden, uns mit Ihnen in Verbindung zu setzen, so geschieht das durch Martin. Wenn Sie zu guter Letzt erwischt werden, dann werden Sie gestehen. Dagegen läßt sich nichts machen. Aber Sie werden sehr wenig anderes zu gestehen haben als das, was Sie selbst getan haben. Sie werden nicht imstande sein, mehr als ein halbes Dutzend unwichtiger Menschen zu verraten. Vermutlich werden Sie nicht einmal mich verraten. Wenn es soweit ist, bin ich vielleicht tot oder ein anderer Mensch mit einem anderen Gesicht geworden.«
    Er fuhr fort, über den weichen Teppich hin und her zu gehen. Trotz der Schwere seines Körpers bewegte er sich mit einer auffallenden Grazie. Sie äußerte sich sogar in der Bewegung, mit der er seine Hand in die Tasche steckte oder seine Zigarette hielt. Mehr noch als den der Kraft erweckte er einen Eindruck der Vertrauenswürdigkeit und eines leise mit Ironie gefärbten Verständnisses. Wie ernst er sich auch geben mochte, so haftete ihm doch nichts von der sturen Unentwegtheit des Fanatikers an. Wenn er von Mord, Selbstmord, Geschlechtskrankheit, amputierten Gliedmaßen und veränderten Gesichtern sprach, so geschah es mit einem leisen Unterton von Spott. »Das läßt sich nicht vermeiden«, schien seine Stimme zu sagen, »das müssen wir unerbittlich tun. Aber wir tun es nicht mehr, wenn erst das Leben wieder lebenswert sein wird.«
    Eine Welle der Bewunderung, fast der Verehrung, wallte in Winston für O'Brien auf. Für einen Augenblick hatte er die Schattengestalt Goldsteins vergessen. Wenn man O'Briens mächtige Schultern und sein derbgeschnittenes, unschönes und doch so gewinnendes Gesicht ansah, konnte man sich unmöglich vorstellen, er könnte jemals eine Niederlage erleiden. Es gab keine Kriegslist, der er nicht gewachsen war, keine Gefahr, die er nicht vorhersah. Sogar Julia schien beeindruckt. Sie hatte ihre Zigarette ausgehen lassen und lauschte gespannt. O'Brien fuhr fort:
    »Sie werden Gerüchte vom Vorhandensein der Brüderschaft gehört haben. Zweifellos haben Sie sich Ihr eigenes Bild von ihr gemacht. Sie haben sich vermutlich eine weitverzweigte Untergrundbewegung von Verschwörern vorgestellt, die sich heimlich in Kellern treffen, Mitteilungen an Häusermauern kritzeln und einander an Losungsworten oder einem besonderen Händedruck erkennen. Nichts dergleichen gibt es. Die Mitglieder der Brüderschaft haben keine Mittel, einander zu erkennen, und es besteht keine Möglichkeit, daß ein Mitglied mehr als ein paar sehr wenige als ihm persönlich bekannt nennen könnte. Goldstein selbst könnte der Gedankenpolizei, wenn er ihr in die Hände fiele, keine vollständige Mitgliederliste oder sonst einen Hinweis geben, auf Grund dessen sie sich eine vollständige Liste beschaffen könnte. Eine solche Liste existiert nicht. Die Brüderschaft kann nicht ausgerottet werden, weil sie keine Organisation im üblichen 79
    George Orwell – 1984
    Sinne ist. Nichts als eine unaustilgbare Idee hält sie zusammen. Sie werden nie etwas anderes zu Ihrer

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