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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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1984
    so als habe er die Anspielung verstanden.
    »Und inzwischen, gibt es noch etwas, was Sie sagen möchten, bevor Sie gehen? Eine Botschaft? Eine Frage?«
    Winston überlegte. Es schien keine Frage mehr zu geben, die er hätte stellen wollen: noch weniger verspürte er Lust, hochtrabende Phrasen zu stammeln. Statt etwas, das unmittelbar mit O'Brien oder der Brüderschaft zu tun hatte, ging ihm ein verschwommenes Bild von dem düsteren Schlafzimmer, in dem seine Mutter ihre letzten Tage verbracht hatte, und dem kleinen Zimmer über Mr. Charringtons Laden mit dem gläsernen Briefbeschwerer und dem Stahlstich in seinem Rosenholzrahmen durch den Sinn. Auf gut Glück sagte er:
    »Haben Sie zufällig jemals einen alten Reim gehört, der ›Oranges and lemons, say the bells of St.
    Clement's‹ anfing?«
    Wieder nickte O'Brien. Mit einer Art ernster Höflichkeit ergänzte er die Strophe:
    »Oranges and lemons, say the bells of St. Ctement's,
    You owe me three farthings, say the bells of St. Martin's,
    When will you pay me? say the bells of Old Bailey,
    When l grow rich, say the bells of Shoreditch.«
    »Sie kennen den letzten Vers!« rief Winston aus.
    »Ja, ich kenne den letzten Vers. Und jetzt, fürchte ich, ist es Zeit für Sie zu gehen. Aber warten Sie. Lassen Sie mich Ihnen lieber eine von diesen Tabletten geben.«
    Als Winston aufstand, reichte ihm O'Brien die Hand. Sein kräftiger Griff drückte Winstons Handteller bis auf den Knochen. Bei der Tür blickte Winston zurück, aber O'Brien schien bereits im Begriff, ihn aus seinem Gedächtnis zu streichen. Er wartete mit der Hand an dem Knopf, mit dem man den Televisor einschaltete.
    Hinter ihm konnte Winston den Schreibtisch mit seiner grüngeschirmten Lampe, den Sprechschreiber und das mit Papieren vollgehäufte Drahtablegekörbchen sehen. Die Sache war erledigt. In dreißig Sekunden, kam ihm zum Bewußtsein, würde O'Brien wieder bei seiner unterbrochenen, wichtigen Arbeit für die Partei sein.
    Neuntes Kapitel
    Winston war von einer gallertartigen Müdigkeit. Gallertartig war das richtige Wort. Es war ihm von selbst in den Sinn gekommen. Sein Körper schien nicht nur eine gelatineartige Weichheit, sondern auch eine ebensolche Durchsichtigkeit angenommen zu haben. Er hatte das Gefühl, würde er die Hand hochhalten, dann könnte er das Licht hindurchscheinen sehen. Sämtliche roten und weißen Blutkörperchen waren ihm durch eine riesige Arbeitsüberlastung abgezapft worden, so daß nur die zerbrechliche Struktur von Nerven, Knochen und Haut übriglieb. Alle Empfindungen waren übersteigert. Sein Trainingsanzug rieb seine Schultern wund, das Straßenpflaster schmerzte seine Fußsohlen, sogar das Öffnen und Schließen einer Hand bedeutete schon eine Anstrengung, die seine Gelenke knacken ließ.
    In den letzten fünf Tagen hatte er mehr als neunzig Stunden gearbeitet. Das gleiche galt von jedem anderen im Ministerium Beschäftigten. Jetzt war alles erledigt, und er hatte bis morgen früh buchstäblich nichts mehr, auch nicht die geringste Arbeit für die Partei zu tun. Er konnte sechs Stunden in seinem Schlupfwinkel und weitere neun daheim in seinem Bett verbringen. Langsam ging er in dem milden Nachmittagssonnenschein eine schmutzige Straße in Richtung auf Herrn Charringtons Laden hinunter, mit einem wachsamen Auge für mögliche Streifen, aber, ohne es begründen zu können, in der festen Überzeugung, daß an diesem Nachmittag für ihn keine Gefahr bestand, von jemand angehalten zu werden.
    Die schwere Mappe, die er trug, stieß bei jedem Schritt gegen sein Knie und jagte ihm einen kribbelnden Schauer die Haut seines Beins hinauf und hinunter. In ihr war das Buch , das jetzt seit sechs Tagen in seinem Besitz war und das er noch nicht aufgemacht, ja noch nicht einmal angesehen hatte.
    Am sechsten Tag der Haß-Woche , nach den Umzügen, den Ansprachen, dem Beifallsgeschrei, dem Liederabsingen, den Standarten, den Maueranschlägen, den Filmvorführungen, den plastischen Darstellungen, dem Trommelschlagen und Trompetengeschmetter, dem Gleichschritt marschierender Füße, dem Knirschen der Raupenketten von Panzern, dem Motorengedröhn von Flugzeugstaffeln, den Salutschüssen der Geschütze – nach sechs solchen Tagen, als die Erregung der Gemüter ihren Höhepunkt 81
    George Orwell – 1984
    erreicht hatte und der allgemeine Haß auf Eurasien zu solcher Siedehitze geschürt worden war, daß die Menge, wenn sie Hand an die zweitausend eurasischen Kriegsverbrecher

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