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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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er.
    »Ich will es aussprechen«, sagte Winston sofort. »Das Ding dort ist auch wirklich abgestellt?«
    »Ja, alles ist abgeschaltet. Wir sind allein.«
    »Wir sind hier hergekommen, weil –«
    Er hielt inne, da er sich zum erstenmal der Unklarheit seiner Beweggründe bewußt wurde. Da er nicht wirklich wußte, in welcher Form er Unterstützung von O'Brien erwartete, war es nicht leicht zu sagen, warum er hergekommen war. Er fuhr fort, wobei er sich bewußt war, daß seine Worte sowohl schwach als auch bombastisch klingen mußten:
    »Wir glauben, daß es eine Verschwörung, eine Art Geheimorganisation, die gegen die Partei tätig ist, gibt und daß Sie damit zu tun haben. Wir wollen ihr beitreten und für sie arbeiten. Wir sind Feinde der Partei.
    Wir glauben nicht an die Doktrin von Engsoz. Wir sind Gedankenverbrecher. Wir sind auch Ehefrevler. Wir sagen Ihnen das, weil wir uns Ihnen ganz auf Gnade oder Ungnade ausliefern wollen. Wenn Sie wünschen, daß wir uns noch auf irgendeine andere Art und Weise belasten, sind wir auch dazu bereit.«
    Er stockte und warf einen Blick über seine Schulter aus dem Gefühl heraus, die Tür habe sich geöffnet.
    Richtig, der kleine, gelbgesichtige Diener war, ohne anzuklopfen, hereingekommen.
    Winston sah, daß er ein Tablett mit einer Karaffe und Gläsern trug.
    »Martin ist einer von den unsrigen«, sagte O'Brien gelassen. »Bringen Sie die Gläser hierher, Martin.
    Stellen Sie sie auf den runden Tisch. Haben wir genügend Stühle? Dann können wir uns ebenso gut setzen und gemütlich reden. Holen Sie sich auch einen Stuhl für sich selbst, Martin. Hier handelt es sich um Geschäftliches. Betrachten Sie sich die nächsten zehn Minuten nicht als Diener.«
    Der kleine Mann setzte sich und machte sich's einigermaßen bequem, aber doch in einer bedientenhaften Art, der Art eines Kammerdieners, dem ein Vorrecht eingeräumt wird. Winston betrachtete ihn von der Seite. Es kam ihm zum Bewußtsein, daß das ganze Leben dieses Mannes Schauspielerei war und er es als gefährlich empfand, auch nur einen Augenblick aus der Rolle zu fallen. O'Brien ergriff die Karaffe am Halse und füllte die Gläser mit einer dunkelroten Flüssigkeit. Sie weckte in Winston dunkle Erinnerungen an etwas vor langer Zeit an einer Hauswand oder einer Reklamefläche Gesehenes – eine riesige, aus elektrischen Glühbirnen zusammengesetzte Flasche, die sich zu neigen und aufzurichten und ihren Inhalt in ein Glas zu leeren schien. Von oben gesehen, sah das Getränk fast schwarz aus, aber in der Karaffe schimmerte es rot wie ein Rubin. Es hatte einen sauersüßen Geruch. Er sah, wie Julia ihr Glas ergriff und mit offen eingestandener Neugier daran schnupperte.
    »Man nennt es Wein«, erklärte O'Brien mit einem leisen Lächeln. »Sie haben sicherlich schon davon in Büchern gelesen. Nicht viel davon sickert bis zur Äußeren Partei durch, fürchte ich.« Sein Gesicht wurde wieder ernst, und er hob sein Glas: »Ich glaube, es ist wohl angebracht, daß wir damit beginnen, miteinander anzustoßen. Auf das Wohl unseres Führers: Hoch lebe Immanuel Goldstein!«
    Winston hob sein Glas mit einer gewissen Ungeduld. Wein war etwas, von dem er gelesen und geträumt hatte. Wie der gläserne Briefbeschwerer oder Mr. Charringtons halberinnerte Reime gehörte er der ausgetilgten romantischen Vergangenheit an, der guten alten Zeit, wie er sie in seinen geheimen Gedanken zu nennen pflegte. Aus irgendeinem Grunde hatte er immer geglaubt, Wein habe einen äußerst süßen Geschmack, ähnlich wie Brombeermarmelade, und eine unmittelbar berauschende Wirkung. In Wirklichkeit war das Getränk, als er es nun schluckte, ausgesprochen enttäuschend. In Wahrheit hinterließ es, nach Jahren des Gin-Trinkens, kaum einen Geschmack auf seiner Zunge. Er stellte das geleerte Glas hin.
    »Es gibt also einen Menschen wie Goldstein?« sagte er.
    »Ja, diesen Menschen gibt es, und er lebt. Wo, weiß ich nicht.«
    »Und die Verschwörung – die Organisation? Besteht sie wirklich? Ist sie nicht nur eine Erfindung der Gedankenpolizei?«
    »Nein, sie besteht wirklich. Die ›Brüderschaft‹ wird sie von uns genannt. Sie werden nie sehr viel mehr von der Brüderschaft erfahren, als daß es sie gibt und daß Sie ihr angehören. Ich werde gleich darauf zurückkommen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Es ist unklug, sogar für Mitglieder der Inneren Partei, den Televisor länger als eine halbe Stunde abzustellen. Sie hätten nicht zusammen herkommen sollen,

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