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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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und Sie müssen getrennt fortgehen. Sie, Genossin« – und er nickte Julia mit dem Kopf zu –, »gehen zuerst. Wir haben noch etwa zwanzig Minuten zur Verfügung. Sie werden verstehen, daß ich damit beginnen muß, 77
    George Orwell – 1984
    Ihnen gewisse Fragen zu stellen. Um es kurz zu machen: Was sind Sie bereit zu unternehmen?«
    »Alles, wozu wir imstande sind«, sagte Winston.
    O'Brien hatte eine kleine Drehung auf seinem Stuhl gemacht, so daß er jetzt Winston vor sich hatte. Er ließ Julia fast unbeachtet und schien es als selbstverständlich anzunehmen, daß Winston auch in ihrem Namen sprechen konnte. Einen Augenblick klappten die Lider über seine Augen. Er fing an, seine Fragen mit langsamer, ausdrucksloser Stimme zu stellen, so, als handle es sich um eine Schablone, eine Art Abhören aus dem Katechismus, bei dem er die meisten Antworten schon im voraus kannte.
    »Sie sind bereit, Ihr Leben zu opfern?«
    »Ja.«
    »Sie sind bereit, einen Mord zu begehen?«
    »Ja.«
    »Sabotageakte zu begehen, die vielleicht den Tod von Hunderten von unschuldigen Menschen herbeiführen?«
    »Ja.«
    »Ihr Land an Feindmächte zu verraten?«
    »Ja.«
    »Sie sind bereit, zu betrügen, zu fälschen, zu erpressen, die Gesinnung von Kindern zu verderben, süchtigmachende Rauschgifte unter die Leute zu bringen, die Prostitution zu ermutigen, Geschlechtskrankheiten zu verbreiten – alles zu tun, was dazu angetan ist, einen Verfall herbeizuführen und die Macht der Partei zu untergraben?«
    »Ja.«
    »Wenn es zum Beispiel irgendwie unseren Interessen dienlich sein sollte, einem Kind Schwefelsäure ins Gesicht zu schütten – sind Sie dazu bereit?«
    »Ja.«
    »Sie sind dazu bereit, Ihre bisherige Persönlichkeit aufzugeben und für den Rest Ihres Lebens als Kellner oder Hafenarbeiter durchs Leben zu gehen?«
    »Ja.«
    »Sie sind bereit, Selbstmord zu verüben, wenn und wann wir Ihnen das befehlen?«
    »Ja.«
    »Sie sind also beide bereit, sich zu trennen und einander nie wiederzusehen?«
    »Nein!« fiel Julia ein.
    Es kam Winston vor, als sei eine lange Zeit verstrichen, ehe er antwortete. Einen Augenblick schien er sogar der Sprache beraubt gewesen zu sein. Seine Zunge brachte keinen Laut hervor, während sie immer wieder die Anfangssilben erst des einen, dann des anderen Wortes zu formen versuchte. Ehe er es nicht ausgesprochen hatte, wußte er nicht, welches Wort er sagen würde. »Nein«, sagte er schließlich.
    »Sie taten gut daran, mir das zu sagen«, sagte O'Brien. »Es ist notwendig für uns, alles zu wissen.«
    Er wandte sich Julia zu und fügte mit einer ein wenig ausdrucksvolleren Stimme hinzu:
    »Begreifen Sie auch, daß er, selbst wenn er am Leben bleibt, das möglicherweise als ein ganz anderer Mensch tut? Wir könnten gezwungen sein, einen völlig anderen Menschen aus ihm zu machen.
    Sein Gesicht, seine Art, sich zu bewegen, die Form seiner Hände, die Farbe seiner Haare – ja sogar seine Stimme wären anders.
    Und auch Sie selbst könnten ein anderer Mensch geworden sein.
    Unsere Chirurgen können einen Menschen bis zum Nichtwiedererkennen verändern! Manchmal ist das nötig. Manchmal amputieren wir sogar ein Glied.«
    Winston konnte nicht umhin, noch einmal einen verstohlenen Blick auf Martins Mongolengesicht zu werfen. Er konnte keine Operationsnarben darauf entdecken. Julia war um eine Schattierung bleicher geworden, so daß die Sommersprossen hervortraten, aber sie sah O'Brien tapfer an. Sie murmelte etwas, das 78
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    wie Zustimmung klang.
    »Gut. Dann wäre das in Ordnung.«
    Eine silberne Zigarettendose stand auf dem Tisch. Mit einer etwas zerstreuten Miene schob O'Brien sie den anderen hin, nahm selbst eine Zigarette, stand dann auf und begann langsam hin und her zu gehen, so, als könnte er stehend besser denken. Es waren sehr gute Zigaretten, prall gefüllt, mit einem ungewohnten feinen Papier. O'Brien blickte wieder auf seine Armbanduhr.
    »Sie gehen jetzt besser zu Ihrer Arbeit, Martin«, sagte er. »In einer Viertelstunde schalte ich ein. Sehen Sie sich die Gesichter dieser Genossen an, bevor Sie gehen. Sie werden sie wiedersehen. Ich vielleicht nicht.«
    Genau wie sie es vorher an der Eingangstür getan hatten, huschten die schwarzen Augen des kleinen Mannes über ihre Gesichter. Keine Spur von Freundlichkeit sprach aus seiner Art. Er prägte sich ihre Erscheinung ein, aber er empfand kein Interesse für sie, so wenig wie er sich anmerken ließ, daß er keines empfand. Der

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