2008 - komplett
wach“, erwiderte er freundlich. „Ich muss gestehen, es ist mir die liebste Nacht des ganzen Jahres. Ich genieße die Ruhe des Wintervorabends, und ich überlege, wie es für diejenigen gewesen sein muss, die in jener Nacht den neugeborenen Heiland besuchten.“ Er klopfte mit der Hand auf die Bank. „Möchtet Ihr Euch zu mir setzen, Mylady?“
Da sie nicht in ihr karges Schlafgemach zurückkehren wollte, nahm sie neben ihm Platz.
„Ich glaube, das Weihnachtsfest bringt Euch nur wenig Freude“, stellte der Priester fest.
„Das ist wahr.“
„Unschöne Erinnerungen?“
„Ja.“
„Wir alle müssen die Last unserer Vergangenheit auf unseren Schultern tragen.“
„Manche haben an dieser Last aber offenbar leichter zu tragen als andere.“
„Oder sie können sie besser verbergen.“
Sie warf dem Priester einen skeptischen Blick zu. „Findet Ihr, Eure Vergangenheit ist eine Last für Euch?“
„Ich meinte damit nicht mich selbst.“
„Spracht Ihr womöglich von Sir Rafe?“
„Und von Euch auch, würde ich sagen. Ihr verbergt Euren Schmerz sehr gut.“
Unwillkürlich versteifte sie sich. „Ich weiß nicht, was Ihr meint.“
„Nicht?“
„Nein.“
„Ich nehme an, Ihr glaubt, dass Sir Rafes Vergangenheit für ihn keine große Last darstellt, nicht wahr?“
„Wenn dem nicht so wäre, dann könnte er nicht immerzu Scherze darüber machen.“
Pater Coll musterte sie nachdenklich. „Manche Menschen verstecken ihren Schmerz hinter nüchterner Würde, andere hinter einem Scherz, doch das bedeutet nicht, dass sie von ihrem Schmerz nichts spüren. Der eine oder andere würde mir sicher darin zustimmen, dass es große Kraft erfordert, den eigenen Schmerz mit Scherzen zu überspielen. Ehrlich gesagt, ich halte Sir Rafe für einen sehr einsamen Mann.“
„Er scheint doch viele Freunde zu haben.“
„Ich würde sie nicht als Freunde bezeichnen, eher wohl als Bekannte. Sonst würde er doch wohl bei einem seiner sogenannten Freunde die Weihnacht feiern.“
„Er war in den Schneesturm geraten und konnte nicht weiterziehen.“
„Ich hörte ihn nicht davon erzählen, dass er irgendwo eingeladen sei.“
Katherine wurde bewusst, wie recht Pater Coll doch hatte. „Das hat er tatsächlich nicht gemacht“, sagte sie.
„Er ist also ein freundlicher Mann, aber er hat nicht viele Freunde. Und er überspielt seine Einsamkeit. Manchmal wird er sich allerdings auch wünschen, er hätte einen guten Freund, vor allem in sorgenvollen Zeiten.“
Katherine musste daran denken, wie er sich im Stall um Cassius gekümmert hatte. Es war ihr so vorgekommen, als habe er sich über ihren Besuch dort gefreut. Vielleicht war er ja viel einsamer als bislang vermutet.
Vielleicht war er so einsam wie sie.
„Ich glaube auch nicht, dass er vielen Menschen in dem Maß vertraut, das einen in die Lage versetzt, seine verwundbare Seite zu offenbaren. So ein Vertrauen findet man nur selten, und es ist ein wunderbares Geschenk, Mylady“, erklärte Pater Coll leise. „Vor allem, wenn es von einem Mann wie Sir Rafe kommt, der lieber jeden in Schach hält, indem er ihn zum Lachen bringt.“
„Ihr glaubt, es ist seine Art von Selbstschutz, indem er die Menschen mit lustigen Geschichten unterhält?“, fragte sie.
„Ganz bestimmt.“
Katherine dachte an die Geschichten, die Rafe ihr aus seinem Leben erzählt hatte, und mit einem Mal sah sie diese in einem ganz anderen Licht. Die Fehler, die er gemacht hatte, die gewonnenen Preise, die Beleidigungen – damit hatte er sie in der Nacht im Stall zum Lachen gebracht, doch jetzt kamen sie ihr gar nicht mehr so lustig vor.
„Er möchte respektiert werden, Mylady, aber wenn das nicht geht oder wenn er es für unmöglich hält, dann mimt er den Hofnarren. Ihm ist lieber, man lacht über ihn, als dass man ihn ignoriert.“
„Ich respektiere ihn ja“, erwiderte Katherine. „Immerhin ist er ein Ritter und mein Gast.“
„Mehr nicht?“
„Er hat sein krankes Pferd mit großem Geschick behandelt“, merkte sie an und sah in die lodernde Glut.
„Das klingt bereits besser. Aber er braucht mehr als Respekt. So wie jeder von uns möchte er geliebt werden.“
„Ich glaube, in dieser Hinsicht hat er wohl keine Probleme“, gab sie zurück. „Er verzückt die Frauen, ohne selbst etwas dafür zu tun. Meine Dienerinnen sind seit seiner Ankunft völlig außer sich.“
„Das ist nicht die Art von Liebe, die ich meine, Mylady, auch wenn er vermutlich glaubt, er habe nicht
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