Das Unkrautland | Auf den Spuren der Nebelfee
Prolog
So stand es geschrieben – auf den letzten Seiten eines kleinen vergilbten Buches:
Weit zurück liegt eine Zeit
in dunkelster Vergessenheit.
Und weit zurück die tiefen Nächte
voll Zauber und geheimer Mächte.
Einst schnitt der Mond, kaum sichtbar fein,
ein Leuchten in die Nacht hinein.
Als dünne Sichel, scharf und schmal,
bestrahlte er das weite Tal.
Der dunkle Wald ganz leise schlief
zum Lied der Grillen, fest und tief.
Doch plötzlich und gar wundersam
hielt Tier und Land den Atem an.
Als langsam aus dem Wald hervor
ein dünner Nebel stieg empor,
der sanft das hohe Gras durchzog
und lautlos einen Schleier wob.
In dieser Nacht zu jener Zeit
erhob sich sacht das weiße Kleid.
Und Schwaden formten ein Gesicht,
den Mund, das Haar im Sternenlicht,
zu einer Fee, so wunderschön,
wie nie zuvor jemals gesehn.
Die Fee, gar fein wie zarter Hauch,
in Tränen sah zum Mond hinauf.
Zum Mond, den sie um alles liebte,
obwohl sein Licht ihr Leid zufügte.
Es brannte heiß wie tausend Kerzen,
bewirkte allzu große Schmerzen.
Weshalb sie nur konnt’ zu ihm gehn,
wenn seine schmalste Sichel schien.
Dann warn die Strahlen so gering,
den kleinen Schmerz, den nahm sie hin.
So tanzte sie in seinem Schein
in ihrem Glück, bei ihm zu sein.
Doch noch ein andrer bei ihr war,
mit scharfem Blick, den sie nicht sah,
der teuflisch böse Pläne heckte,
sich in der Finsternis versteckte.
Und nur der Südwind warnte leis
vor der Gestalt, mit Krone aus Eis.
Da färbte sich jedoch das Licht,
worauf die Nacht dem Morgen wich
und sacht der Nebelschleier schwand
zu feinem Tau über dem Land.
Und leise, fern, zum letzten Mal
ging tiefes Schluchzen durch das Tal.
Die nächste Nacht schien sonderbar,
da Neumond zu erwarten war,
und dennoch überm dunklen Wald
des Mondes Sichel strahlte kalt.
Die Fee, sie freute sich so sehr,
das Licht, es brannte nimmermehr.
Von Süden heftig schrie der Wind:
»Oh, sieh dich vor! Flieg weg geschwind!«
Zu spät! Ein Donner brach durchs Land –
schon griff nach ihr die eis’ge Hand.
Er sperrte sie ein und brachte sie fort
mit schallendem Lachen zu fernem Ort.
Doch dann, mit einem lauten Schlag
vom Himmel fiel der Mond herab.
Zersprang, zerbrach mit Blitz und Sturm,
die Erde riss, der Wald fiel um.
Es taumelten die hohen Berge
und stürzten nieder auf die Erde.
Hagel, Schnee, wie nie gekannt,
erschlugen nun das arme Land.
Die Krone fiel, es kam Dunkelheit
mit Eiseskälte für eine Ewigkeit.
Und erst nach Jahren voller Weh
wurde es still, es schmolz der Schnee.
So mussten tausend Jahre gehn,
bevor das Land konnt’ neu entstehn.
Doch nie mehr gab es den Bericht
von der Nebelfee im Mondenlicht.
Und nicht einmal der Wind kann sagen,
was irgendwo noch liegt begraben.
Frühstück nach Mitternacht
D er Distelpfad war ein holpriger Weg. Verwildert, überwuchert und stellenweise vollständig zugewachsen grub er sich durch das Gehölz. Wahrlich, es war alles andere als leicht, diesem kleinen Pfad zu folgen, da man im Finsterwald für gewöhnlich kaum etwas sehen konnte. Vielerorts standen die alten Bäume so eng, dass es nicht einmal mehr der kleinste Lichtstrahl schaffte, durch das dichte Blattwerk zu dringen. Ganz ohne Zweifel, der Finsterwald trug seinen Namen zu Recht. Schritt für Schritt musste man sich zwischen den Bäumen hindurchtasten, wobei man ständig irgendwo hängen blieb. Man stolperte über Wurzeln, verhedderte sich in störrischen Ranken oder stieß mit dem Kopf gegen einen der knorrigen Äste. Mit einem gemütlichen Waldspaziergang hatten diese Strapazen daher wenig zu tun. Und dennoch – trotz der vielen Unannehmlichkeiten hatte der Distelpfad einen großen Vorteil:
Denn dieser gewundene Waldweg war der einzige , der sich ohne Unterbrechung von Norden nach Süden durch den gesamten Finsterwald schlängelte. Eine kürzere Strecke, den mächtigen Wald zu durchqueren, gab es nicht. Diejenigen also, die möglichst schnell von den besiedelten Gebieten im Norden zu den südlich gelegenen Nebelfeldern oder gar weiter bis zu den Bleibergen wollten, mussten wohl oder übel jenen Weg einschlagen. Doch darauf ließen sich nur die wenigsten ein.
Der Wald sei verhext, so hieß es, verflucht und voller Gefahren. Zahllose Geschichten wurden um ihn gesponnen, von Geistern, Spuk und schaurigen Orten. Orte, von denen angeblich so mancher Wanderer nie mehr zurückgekehrt war. Die abergläubischen Bauern siedelten sich deshalb allesamt
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