2011 - komplett
dann kann der Arzt sie untersuchen.“
Sebastian zog sich mit dem Earl in den Gang zurück, atmete tief ein und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht.
„Du siehst aus, als könntest du ein Glas Brandy gebrauchen“, sagte Lord Gresham.
Sebastian lächelte schief. „Mir ist eher nach mehreren zumute.“
Der Earl legte Sebastian die Hand auf die Schulter. „Du und Evan habt meine Mädchen gerettet. Ich weiß nicht, wie ich euch danken soll.“
„Der Dank gebührt allein Addie, die Grace das Rettungsseil zugeworfen hat. Das Eis hätte mein oder Evans Gewicht nicht ausgehalten.“
Lord Gresham schüttelte bedrückt den Kopf. „Ich bin unendlich dankbar, dass ihr beide in der Nähe wart. Aber wie es möglich ist, dass das Rettungsseil zu kurz war, ist mir unbegreiflich. Sei versichert, so ein Fehler wird nie wieder vorkommen.“
„Gut. Obwohl dieser Vorfall mir erst einmal jede Lust auf das Schlittschuhlaufen genommen hat.“
„Mir auch. Nun, wie wäre es mit einem Gläschen? Wir werden deinen Vater bitten, sich zu uns zu gesellen. Er kann sicher auch eine Stärkung gebrauchen.“
Sebastian sagte sich, dass er die Gelegenheit eigentlich nutzen sollte, um seinem Vater und auch Lord Gresham von seinem Entschluss zu berichten, Grace doch keinen Antrag zu machen. Aber diese Unterhaltung würde warten müssen, bis er sich wieder gefasst hatte. In diesem Moment fühlte er sich, als hätte man ihm einen Schlag mit der Axt verpasst.
„Vielen Dank, vielleicht später. Ich fürchte, noch bin ich ein wenig zu erschüttert.“
„Aber natürlich. Völlig verständlich. Warum ruhst du dich nicht ein wenig in deinem Zimmer aus? Du bist wirklich ein wenig blass um die Nase.“
Voller Erleichterung stimmte Sebastian zu und machte sich auf den Weg. Kaum hatte er sein Zimmer betreten, zog er den Mantel aus und hielt direkt auf den Tisch mit den Weinkaraffen zu, wo er sich eine großzügige Portion Brandy einschenkte. Das starke Getränk fühlte sich wie Feuer in seiner Kehle an, half aber nicht, das eisige Gefühl auszumerzen, das sich um sein Herz gelegt hatte.
Er leerte sein Glas, schenkte sich ein weiteres ein und setzte sich dann schwerfällig auf den Bettrand. Die Ellbogen auf die Schenkel gestützt, beugte er sich vor und starrte in das Glas, das er in den Fingern hielt. Erst jetzt ließ er seinen Gefühlen freien Lauf, dem eiskalten Entsetzen und der Furcht, die er zunächst in sich hatte ersticken müssen.
Er kniff die Augen zusammen, und ein Bild von Addie erschien vor seinem inneren Auge, wie sie, umgeben von dünnem Eis, auf dem Bauch lag und langsam auf Grace zurutschte. In seinem ganzen Leben würde er dieses grausige Bild nicht aus seiner Erinnerung löschen können. Es war für immer in seinem Gedächtnis eingegraben.
Wie hätte er es nur ertragen sollen, wenn Addie wirklich eingebrochen oder gar gestorben wäre? Der Gedanke allein genügte, um ihm jeden Lebenswillen zu nehmen. Was hatte sein Gesichtsausdruck ihr verraten? Hatte sie die Gefühle erkannt, die er in jenen dramatischen Momenten vielleicht nicht vor ihr hatte verbergen können? Er wusste es nicht. Tatsächlich wusste er nur noch eins: Er hielt es nicht mehr aus, sie in seiner Nähe zu haben und dennoch nicht besitzen zu dürfen. Der Gedanke, dass sie einem anderen gehörte, war unerträglich – genauso wie die Tatsache, dass sie seinen Bruder liebte. Irgendetwas musste geschehen.
Aber was?
8. KAPITEL
Sebastian öffnete die Augen und blinzelte mehrere Male, bis er sich wieder erinnerte, wo er war. Doch dann stellte er überrascht fest, dass er auf der königsblauen Tagesdecke auf seinem Bett lag.
Leise stöhnend setzte er sich auf. Er musste eingeschlafen sein, was ihn auch nicht erstaunte, da er in den vorigen zwei Nächten kaum ein Auge zugetan hatte. Ein Blick auf die Goldbronze-Uhr auf dem Kaminsims zeigte ihm, dass es zwölf Uhr war. Es kann unmöglich schon Mitternacht sein, dachte Sebastian entsetzt. Er sah aus dem Fenster. Als er hereingekommen war, hatte noch die Sonne geschienen. Jetzt drang nur das kühle Licht des Mondes ins Zimmer.
Sebastian fuhr sich mit der Hand durch das Haar und bemerkte das Dinnertablett auf dem Nachttisch – genau neben seinem leeren Glas. Für gewöhnlich schlief er sehr leicht, doch die Mischung aus Alkohol, Erschöpfung und Angst, die er erlebt hatte, musste ihn regelrecht bewusstlos gemacht haben.
Langsam erhob er sich und entdeckte erst jetzt das Papier auf dem Tablett. Er nahm es in
Weitere Kostenlose Bücher