2012 – Das Ende aller Zeiten
Ernte betrafen, etwa ob die Käfer ( Epilachna borealis , falls es Sie interessiert) sich für einen neuen Großangriff auf die Felder bereit machten. Genauso oft ging es um das Wetter, wobei der rote Läufer die Sonne repräsentierte und die anderen Quarzsteine für Wolken oder Berge standen. Manchmal ließ Mutter den Läufer Verwandte oder Nachbarn vertreten, um ihnen bei wichtigen Ereignissen im Leben – Hochzeiten, Beerdigungen – beizustehen oder um zu erfahren, wie sie gesunden konnten, wenn sie krank waren. Ich erinnere mich, wie ich sie einmal bat, für die Großmutter väterlicherseits meines Cousins mütterlicherseits zu spielen, die an einer üblen Wurmerkrankung litt. Meine Mutter brach das Spiel mittendrin ab. Erst viel später wurde mir klar, dass sie es beendet hatte, weil sie sah, dass die alte Frau sich nicht mehr erholen würde.
Manchmal wollte ich erraten, wann mein Vater an einem bestimmten Abend nach Hause käme. Zuerst wehrte Mutter sich dagegen, weil es zu banal sei, aber schließlich ließ sie mich den Karneol als Platzhalter für Tata bewegen, und sie spielte in gewisser Weise gegen ihn. Mein Stein musste daher vor den Samenkörnern meiner Mutter bleiben, die mich verfolgten. Wenn sie am Ende meinen Stein in der, sagen wir, Nordwestecke einfing, bedeutete es, dass Vater sehr spät nach Hause kam, weil die Stadt nordwestlich von uns lag. Würde mein Stein in der Mitte eingefangen, hieß das, dass er gleich nach Hause käme. Und so war es dann auch: Es dauerte immer nur wenige Minuten, und er kam durch die Tür.
Nichts davon erschien wie Wahrsagerei oder Astrologie oder sonst ein disparate . Es war einfach das Spiel – oder nennen wir es, um des roten Fadens willen, schon vorzeitig das Opferspiel, obwohl mir klar ist, dass ich es noch nicht angemessen eingeführt habe. Doch ganz wie das Opferspiel half es einem, Dinge bewusst wahrzunehmen, dieman geistig bereits erfasst hatte. Einmal sagte einer meiner Onkel, dass die Ureinwohner in alter Zeit Eulenaugen gehabt hätten und durch die Himmelsschale und durch Berge in die Höhlen der Toten und der Ungeborenen blicken konnten. Wenn jemand krank war, konnte man durch seine Haut in seine Organe schauen und die Krankheit finden. Man konnte seine Geburt hinter sich sehen und seinen Tod vor sich. Doch mit der Zeit, sagte mein Onkel, hätten die Augen unseres Volkes sich bewölkt und wir könnten nur noch einen kleinen Teil der Welt erkennen, nur das, was an der Oberfläche vorging.
Ich übte viel. Am ersten Tag meines zwölften tz’olk’in – das heißt, als ich ungefähr achteinhalb Jahre alt war – initiierte meine Mutter mich in mein Leben als h’men . Das Wort ist als »Tagehüter«, »Zeithüter«, »Sonnenhüter« und sogar »Zeitbuchhalter« übersetzt worden. Am wörtlichsten wäre aber »Sonnenzusammenrechner« oder »Sonnenaddierer«, und ich möchte es bei der letzten Bezeichnung belassen. Ein Sonnenaddierer ist im Grunde der Dorfschamane, das heidnische Gegenstück zum katholischen Priester. Wir finden heraus, ob jemand krank ist, weil irgendein verstorbener Verwandter ihn malträtiert, und wenn ja, welche kleinen Opfergaben angebracht wären, um den Geist dieses Verwandten zu besänftigen, und welche Kräuter am Haus aufgehängt werden sollten, um die Heilung zu beschleunigen. Wann sollte man seine milpa , das Maisfeld der Familie, abbrennen? Ist es ein guter Tag für eine Busreise in die Hauptstadt? Was wäre ein günstiger Tag für die Taufe? Alles ist mit dem Katholizismus vermengt, deshalb benutzen wir auch Teile der Liturgie. Wenn Sie boshaft sein wollen, könnten Sie wohl sagen, wir seien die örtlichen Medizinmänner. Dass wir Sonnenaddierer genannt werden, liegt daran, dass es unsere Hauptaufgabe ist, den traditionellen Ritualkalender fortzuführen. Die kleinen rituellen Opfer, die wir darbieten, und sogar alles, was mit dem Opferspiel zu tun hat – das Sie Wahrsagerei nennen könnten, wenn Sie gemein sein wollen –, sind mehr oder weniger zweitrangig.
Für die Ch’olan kommt alles paarweise, das gilt besonders für alles Schlechte. Und so war es auch bei mir – zwei Jahre nachdem ich mein Bündel bekommen hatte, das alles enthielt, was ich als Addierer brauchte.
Wenn man über Länder wie Guatemala eines sagen kann, dann, dass die Eroberung dort noch immer weitergeht. In Guatemala hatten sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert – einen winzigen Abschnitt der Geschichte lang – die Dinge für uns
Weitere Kostenlose Bücher