0542 - Luzifers Welt
Nicole Duval hatte den Cadillac oben am Feldweg gelassen und war die kleine Böschung zu Fuß hinabgestiegen. Hier unten zog sich das graue Band der Loire entlang, dem kleinen Dorf entgegen. Der Fluß war hier noch nicht tief und breit genug, um großen Eindruck auf den Betrachter zu machen, aber tief und breit genug, um darin schwimmen zu können. Es gab hier einen kleinen, gemütlichen Platz. Hier konnte man ungestört sein, wenn man es wollte. Man konnte einfach nur sitzen und über die Loire schauen. Oder man konnte, geschützt von dichtem, hoch und wild wucherndem Buschwerk, sich sonnen oder baden.
Der kleine, verschwiegene Winkel war für jeden da. Wer zuerst kam, konnte sich auch zuerst hier ausbreiten. Wenn sich schon jemand an diesem Ort befand, der auf keinen Fall gestört werden wollte, legte der ein allen im Dorf bekanntes Zeichen und wurde dann auch in Ruhe gelassen. Wer dieses »Besetztzeichen« nicht benutzte, der hatte auch nichts dagegen, gestört zu werden.
Hier funktionierte die »heile Welt« noch, denn in dem kleinen Dorf bestand ein Zusammenhalt, den man längst nicht mehr überall fand.
Und »Schloßherr« Zamorra und seine Gefährten gehörten mit dazu.
Nicole wollte einfach mal wieder schauen, wie es hier aussah und wie weit der Frühling schon vorangeschritten war.
Wie sie jedoch feststellte, war bereits jemand hier.
Pater Ralph saß am Ufer der Loire.
Als er Schritte hörte, sah der junge Dorfgeistliche auf.
Vor etwas über einem Jahr war Pater Ralph hierher versetzt worden. Die meisten nannten ihn schmunzelnd »Ralph de Bricassart« nach der Figur aus Buch und TV-Reihe ›Dornenvögel‹. Er glich dem Darsteller Richard Chamberlain tatsächlich ein wenig. Und er hatte es längst aufgegeben, gegen den Spitznamen zu protestieren. Zumal der Spitzname bewies, daß Pater Ralph von den Leuten im Dorf voll akzeptiert wurde.
»Ich wollte Sie nicht stören, Pater«, sagte Nicole.
»Du störst mich nicht, meine Tochter. Willst du dich eine Weile zu mir setzen?«
»Vielleicht. Ich wollte nur schauen, ob alles in Ordnung ist.«
Er nickte.
»Ich habe selten ein so aufgeräumtes, sauberes Stück Natur gesehen. Keine leeren Zigarettenschachteln fliegen herum, keine Bierflaschen oder Cola-Dosen… nur die Aschenreste von Lagerfeuern.«
»Wer hierherkommt, der verläßt den Platz so aufgeräumt, wie er ihn selbst gern vorfinden möchte«, sagte Nicole. »Und weil jeder sich verantwortlich fühlt, funktioniert das auch. Moment mal… was ist denn das…?«
»Bitte?«
Er stand auf und folgte Nicole langsam, die auf das Strauchwerk zuging.
Sie hatte etwas Buntes hinter den Zweigen gesehen, die auch im Winter noch einen hervorragenden Sichtschutz boten. Und sie wollte wissen, ob nicht doch jemand heimlich Zivilisationsmüll hinterlassen hatte.
Oder vielleicht etwas versteckt…?
Sie bog ein paar Zweige auseinander und trat zwischen die Sträucher.
Einige Zweige waren geknickt worden, aber wann, ließ sich nicht feststellen. Immerhin war jemand hiergewesen.
Und da waren…
»Nein«, flüsterte Nicole. »Das kann nicht wahr sein. Wer, zum Teufel, hat denn hier Gärtner gespielt?«
Sie stand vor einer kleinen Gruppierung von Regenbogenblumen!
***
Gryf ap Llandrysgryf war Silbermond-Druide. Er sah aus wie ein fröhlicher junger Bursche um die Zwanzig… Dabei war er weit über 8.000 Jahre alt!
Laut gähnend reckte er seine jugendlich alten Glieder.
Er hatte bis in die Mittagsstunden geschlafen. Das kam manchmal vor; immerhin hatte er in den letzten Tagen und Nächten wenig Schlaf gefunden.
Er war seinen beiden Hobbys nachgegangen. Der Jagd nach hübschen Mädchen - und der Jagd auf Vampire!
Den Vampir hatte er schließlich gepfählt. Und das hübsche Mädchen… nun ja, da war er wesentlich charmanter und zärtlicher gewesen.
Aber kräftezehrend waren beide Aktionen gewesen.
Die süße Carmencita hatte sich bereits fertig angekleidet. Jetzt hockte sie mißmutig in einer Zimmerecke und las in einem von Gryfs alten Büchern.
Den Gutenmorgen-Kuß ließ sie lustlos über sich ergehen.
Sie hatte beschlossen, sich in Gryfs selbstgewählter Einsamkeit nicht wohl zu fühlen. Es gab für sie hier zuwenig Zivilisation. Kein Radio, kein Satelliten- oder Kabelfernsehen, keinen Spielcomputer, keinen Hamburger-Kiosk. Und keinen Zigarettenautomaten hundert Meter weiter an der Straßenecke, zu dem man im Auto fahren konnte… Alles Dinge, auf die Gryf seinerseits liebend gern verzichten
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