2012 – Das Ende aller Zeiten
der G2, der Geheimpolizei, unmittelbar Gefahr drohe. Vielleicht hatte sie irgendetwas gesehen.
Eine Woche später erhielten die Nonnen einen Befehl, mich und vier andere Kinder aus T’ozal – einschließlich »No Way« José, der mein ältester verbliebener Freund wurde – nach Guatemala-Stadt zu fahren, wo wir Umsiedlungslagern zugeteilt werden sollten. An das katholische Waisenhaus erinnere ich mich kaum, weil ich am ersten Tag floh; allerdings war es keine Flucht im wörtlichen Sinne, denn ich ging einfach zur Tür hinaus. Quer durch die Stadt schlug ich mich zu einem finanziell weitaus bessergestellten Kinderkrankenhaus durch, das AYUDA hieß und von den HLT verwaltet wurde, der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage oder, wie sie sich ungern nennen lassen, Mormonen. Ein Gerücht besagte, dass sie Kinder aus Guatemala in die USA schickten, die ich mir zu dieser Zeit als einen Garten Eden der irdischen Genüsse mit Pommes-frites-Sträuchern und Flüssen aus trockeneiskaltem Fruchtsaft vorstellte. An der Hintertür stand eine riesengroße Frau mit hellem Haar, die eine Zeit lang zögerte und mich dann, entgegen der Vorschrift, hereinließ. Ich habe sie danach nur noch ein paar Mal gesehen und nie ihren Namen erfahren, aber ich denke jedes Mal an sie, wenn ich diese chromgelbe Haarfarbe sehe. Später, nachdem man mich als wahrscheinlich verwaist eingetragen hatte, wurde ich in eine Einrichtung vor der Stadt verlegt, die man die Plantagenschule von Paradise Valley der HLT nannte.
Ich brauchte lange, bis mir dämmerte, was meiner Familie zugestoßen war, doch mit Sicherheit weiß ich es bis heute nicht. Es gab keinen Augenblick, an dem ich sicher gewesen wäre, dass meine Eltern tot sind; es gab nur eine ständig wachsende Akzeptanz ihres Todes. An der PSPV waren die Samstage frei, und wenn es Verwandte gab, durften sie die Schüler in einem Klassenzimmer besuchen. Jeden Samstagmorgen borgte ich mir bei einem Schüler der höheren Klassen ein Mathematikbuch, ging ins Klassenzimmer, setzte mich in die hinterste Ecke in die kühle Umarmung zweier erbsengrün gestrichener Betonziegelmauern und des ebenso erbsengrünen Linoleumbodens und behielt einfach nur alles im Auge. Nie erschien jemand, um mich zu besuchen. Die La Mara, die ›Gang‹, machte sich über mich lustig, aber ich beachtete so etwas kaum noch. An Samstagen habe ich heute noch meine Schwierigkeiten. Ich werde unruhig und ertappe michdabei, dass ich immer wieder aus dem Fenster blicke oder zehnmal die Stunde meine E-Mails abrufe.
Fast zwei Jahre verbrachte ich in der PSPV , ehe ich in das Vermittlungsprogramm für amerikanische Ureinwohner kam – das zugleich eine Stiftung zur Eingliederung von Flüchtlingen ist. Kurz nach meinem sechzehnten Tz’olk’in -Namenstag – das heißt, ich war elf –, flog mich eine Familie namens Ødegård mit ein wenig finanzieller Hilfe seitens der Kirche nach Utah.
Die Heiligen der Letzten Tage tun wirklich viel Gutes für Indianer, das muss man ihnen lassen. Beispielsweise haben sie den Zuni geholfen, den größten Rechtsstreit zu gewinnen, den eine indianische Nation jemals gegen die US -Regierung angestrengt hat. Überall in Lateinamerika unterhalten sie karitative Einrichtungen, obwohl die Kirche bis 1978 offiziell die »Überlegenheit der weißen Rasse« vertreten hat. Die HLT glauben, dass einige Indianer, die hellhäutigen, Nachfahren eines hebräischen Patriarchen namens Nephi sind, einer Hauptfigur im Buch Mormon. Aber wen interessiert es schon, weshalb sie uns helfen? Sie haben sich um mich und viele andere gekümmert.
Ich konnte kaum fassen, wie reich die Ødegårds waren. Fließendes Wasser war schon sensationell, aber sie hatten sogar einen unbegrenzten Vorrat an angelitos, unser Name für Marshmallows, sowohl von der halbfesten als auch der halbflüssigen Variante. Irgendwie glaubte ich, die USA hätten uns erobert und ich würde als Häftling in einem Luxusgefängnis in der Hauptstadt ihres Reiches aufgezogen. Ich brauchte einige Zeit, bis ich begriff, dass die Ødegårds nach US -Maßstäben zur unteren Mittelschicht gehörten. Ich meine, diese Leute sagen »Supper« statt »Dinner« und »Dinner« statt »Lunch« und haben in der Küche eine Wandtafel hängen mit dem Rezept für »Jesuskinds Zuckerplätzchen mit Butter und Liebe«, mit Zutaten wie »ein Schuss Verständnis« und »ein Quäntchen Disziplin«. Und dabei gelten sie da unten als Intellektuelle. Deshalb hat es mich einige
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