2012 - Folge 1 - Botschaft aus Stein
war ein handgeschnitztes Prachtstück. Die Stufen knarrten bei jedem Schritt, auch die gebohnerten Dielenbretter auf dem langen schmalen Flur. Zimmer 8 lag am Ende des Korridors, die Gemeinschaftstoilette gleich nebenan.
Das Zimmer erwies sich als längliche Kammer mit Schrank, Bett, zwei klapprigen Stühlen, aber einem prachtvollen alten Schreibschrank. Das kleine Fenster mit den matten Scheiben führte auf den Hinterhof hinaus; der spärliche und vergilbte Vorhang sah aus, als müsse er mit größter Vorsicht behandelt werden, sollte er nicht auseinanderfallen.
Die Luft in dem Raum schmeckte abgestanden. Das Aroma von Putzmitteln vermischte sich mit Küchengerüchen und einem Hauch von Patina.
»Das Haus hat ein gewisses Flair«, bemerkte Branson lächelnd. »Bislang gab es keinen Anlass zur Klage.« Tom nickte schweigend. Er öffnete das Fenster und blickte hinab in einen staubigen Hof, der zur Hälfte von Gemüsebeeten eingenommen wurde. Zwischen Kakteen scharrten Hühner nach Futter. Eine Art Mauersims lief unter dem Fenster vorbei. Zwei Meter zur Rechten hing eine vom Rost zerfressene Dachrinne, genau darunter stand eine leere Holztonne.
»Da fällt mir ein: Ich weiß nicht, ob Sie schon gegessen haben, Tom«, sagte Branson nachdenklich. Ericson schloss das Fenster wieder. Es klemmte leicht. »Die letzte spärliche Mahlzeit war auf dem Flug nach Cancun«, erwiderte er.
Bransons leises Lachen hatte etwas Ergebenes. »Seit Tagen sehe ich ausgedehnte Essenszeiten eher als Zeitvergeudung an. Was nicht unbedingt sein muss, ignoriere ich lieber. Ich weiß nicht einmal mehr, wie es ist, auszuschlafen. Nach drei oder vier Stunden endet inzwischen jede Nacht für mich.«
Branson wirkte in der Tat übernächtigt und gehetzt. »Vielleicht tut es Ihnen gut, aus dem Trott auszubrechen«, sagte Ericson. »Was meinen Sie? Ein paar Tortillas? Ich lade Sie ein, Seymor.«
»Einverstanden.«
Tom packte seinen Tablet-Computer in eine kleine Umhängetasche, die Papiere trug er ohnehin am Leib, alles andere verstaute er im Schrank. »Den Schlüssel... «
»Unten abgeben«, meinte Branson. »In dem Haus ist noch nie etwas weggekommen.«
Zu Essen bekamen sie allerdings nichts. »Reparaturen in der Küche.« Entschuldigend hob die Besitzerin die Schultern. »Erst morgen wieder.«
6.
Jesus-Ernesto hatte an diesem Nachmittag nicht viel zu tun. Nur wenige Touristen hatten sich nach Muna verlaufen, das Gros wurde von den Bussen direkt nach Uxmal gekarrt und dort ausgeladen. Obwohl der Kellner vom Tourismus lebte und ein recht ordentliches Auskommen hatte, stand er diesen Leuten oftmals zwiespältig gegenüber. So interessiert sie sich auch geben mochten, häufig steckte wenig Substanz dahinter. Die meisten Besucher wollten Fotos, um zu Hause mit ihrem Dschungelabenteuer zu protzen. Aber wer interessierte sich schon wirklich für Land und Leute?
Jesus-Ernesto rückte die Stühle zurecht und räumte den Tisch ab, den die letzten Gäste ziemlich unordentlich hinterlassen hatten. Geschmeckt hatten ihnen die Enchiladas suizas wohl nicht, denn die Hälfte hatten sie übrig gelassen.
Als der Mexikaner wieder aus dem Haus auf den Gehsteig trat, sah er die» beiden Gringos. Sie kamen die Straße entlang, und offenbar gehörten sie zu keiner Reisegruppe. Minutenlang blieben sie neben einem alten VW-Käfer stehen, als ob es da besonders viel zu sehen gäbe. Amerikaner eben. Jesus-Ernesto war nicht sonderlich gut auf die Leute aus den Staaten zu sprechen.
Suchend schauten die beiden sich um. Den Kleineren und zugleich Korpulenteren mit dem wild zerzausten grauen Haar kannte der Kellner. Jesus-Ernesto hatte den Mann zumindest schon öfter gesehen, und meist war er mit Fremden zusammen gewesen.
Schlagartig fiel es ihm wieder ein. Branson hieß der Mann, und er war kein Amerikaner, sondern stammte weiter aus dem Norden. Er leitete die archäologische Ausgrabung zwischen Muna und Uxmal.
Nur kurz hatte Jesus-Ernesto den Eindruck, Branson und sein Begleiter würden auf seine Seite herüberkommen. Sie entschieden sich aber für Zapopas Restaurant. Seit die Senora das Nebengebäude abgerissen hatte, stand ihr mehr als doppelt so viel Platz wie früher zur Verfügung. Das war nicht gut. Eigentlich sollte jedes Lokal sein Auskommen haben, doch Zapopa fing neuerdings die größeren Gruppen ab. »El menu, por favor!«
Jesus-Ernesto schreckte aus seinen wenig zuträglichen Überlegungen auf. Er hatte nicht bemerkt, dass ein Gast gekommen
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