2012 - Folge 1 - Botschaft aus Stein
Verkaufsstand blieb Tom kurz stehen, um sich die Schnitzarbeiten und Bildplatten anzusehen. Schon nach wenigen Sekunden wollte ihm ein Mestize die Totenmaske des Königs Pacal von Palenque in die Hand drücken.
Ein wundervolles, edles Stück, eine absolut perfekte Kopie des Originals, behauptete der Händler. Beste Jade, Muscheln und Obsidian. Ein Stück, das Tausende von Dollars wert sei.
Ericson klopfte mit den Fingerknöcheln auf die ihm hingehaltene Maske. »Plastikimitat, keine Jade. Einen schönen Tag noch.«
Er wollte weitergehen, doch der Händler hielt ihn am Oberarm zurück. Tom fuhr herum. »Ich mag es nicht, wenn mich jemand...«, begann er frostig - und verstummte, als sein Blick zwischen den Leuten, die hinter dem Händler vor einem offenen Pavillon standen, ein Gesicht wiederzuerkennen glaubte.
Abermals hatte er den Mann nur für einen flüchtigen Moment gesehen, trotzdem war Ericson fast sicher, dass er sich nicht getäuscht hatte: Der Indio war ihm schon am Flughafen in Cancun aufgefallen.
Die hellblaue Jeans war dem Träger zu lang und deshalb unten umgeschlagen. Das schwarze, locker fallende Haar reichte ihm fast bis zur Hüfte. Um den Kopf hielt er die üppige Fülle mit einem Stirnband zusammen. Dazu der leichte Rucksack über der rechten Schulter und die ziemlich muskulösen nackten Arme. Tom sah den Mann nicht mehr.
Dafür entdeckte er Branson. Der Professor zwängte sich durch die Menge vor dem Pavillon und schaute suchend um sich.
Erst als Tom sich in Bewegung setzte, wurde Seymor Branson auf ihn aufmerksam.
Tom stellte fest, dass Branson seit ihrer letzten Begegnung einige Pfunde zugelegt hatte, die sich deutlich sichtbar über dem Gürtel wölbten. Sein Gesicht wirkte ebenfalls leicht aufgequollen, ein Eindruck, den der Musketier-Bart noch verstärkte. Die dunklen Schatten unter den Augen mochten eine Folge permanenter Überarbeitung sein, ebenso die tief eingegrabenen Falten - Tom kannte das nur zu gut. Was er jedoch vermisste, war Seymors vor Energie sprühender Blick.
»Ich komme ungelegen?« Tom mochte es nicht, wegen falsch verstandener Höflichkeit um den heißen Brei herumzureden.
Ein Zucken umfloss Bransons Mundwinkel. Er lachte und streckte Ericson die Hand entgegen. »Ganz und gar nicht.
Ich habe nur ein paar schwere Tage hinter mir, aber Sie kennen das ja.« Bransons Händedruck sollte kräftig wirken, trotzdem konnte das sein leichtes Zittern nicht kaschieren.
Der Grabungsleiter deutete mit einem knappen Kopfnicken auf Toms Gepäck. »Draußen bei unseren Grabungen ist kaum Platz für Zelte. Proviantkisten und Arbeitsmaterial konnten wir unterbringen, mehr nicht. Die teure Elektronik und der notwendige Bürokram werden höchstens mal im Auto eingesetzt, aber für das Wichtigste haben wir hier in Muna eine Art Basiscamp eingerichtet. Es ist ein privates Gästehaus, ordentlich geführt. Momentan sollten zwei Zimmer frei sein, weil nicht alle von uns vor Ort sind. Ich schlage vor, Sie bringen Ihr Gepäck dort unter und wir sehen uns anschließend bei den Grabungen um. Kommen Sie, zum Jeep. Wir müssen ein paar Meter fahren.« Die Unterkunft lag nur einige Straßenzüge entfernt. Muna war im Endeffekt nicht viel anders als Hunderte ähnlicher Orte, die Tom schon gesehen hatte. Irgendwie verschlafen, aber auch voll farbigem Leben. Viele Hausfassaden verfielen allmählich, und gerade deshalb stachen die Gebäude hervor, die in letzter Zeit renoviert worden waren.
Einige liebevoll gepflegte VW-Käfer standen am Straßenrand, Hunde lagen träge von der Mittagshitze im Staub, Kinder spielten.
Branson gab ein paar eher belanglose Erklärungen. Das einzige wirklich große Hotel am Ortsrand, das Moon Flower Resort and Spa, sei für die Belange des Grabungsteams einfach eine Nummer zu gehoben, meinte er. So heruntergekommen, wie Tom danach annahm, erwies sich das Gästehaus jedoch nicht. Ein zweistöckiger Flachbau wie fast alle Gebäude rundum, eingebaut in einen langen Straßenzug, aber schon von außen gepflegt wirkend.
Kakteeneinpflanzungen vor der Tür, der Gehweg sauber gefegt. Innen etwas düster, aber angenehm kühl. Ein Ventilator drehte sich unter der Decke.
Die Besitzerin war eine ältere, stabile Dame, die ihrer Kleidung nach zu urteilen vor allem in der Küche arbeitete.
Sie wollte Toms Personalien nicht, reichte Branson nur einen Schlüssel und deutete nach oben. »Ocho«, sagte sie mit einem einladenden Zahnlückenlächeln.
Die Treppe hoch ins Obergeschoss
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