2012 - Folge 1 - Botschaft aus Stein
Grabbeigaben mit einer düsteren Verbindung zum Jenseits. Touristen kauften hin und wieder Repliken dieser Toteneulen. Und dennoch: Selbst wenn die Figur nur aus billiger Massenproduktion stammte, womöglich mit dem Stempel »Made in China«, wie kam sie auf die Marquesas? Bei den Originalen handelte es sich immerhin um Beigaben aus Maya-Gräbern. Tom hatte schon die Hand ausgestreckt, um die Figur aus der Felsnische herauszunehmen, als er sich ihrer Blickrichtung bewusst wurde. Die Eule stand dem Toten zugewandt. Sie wachte über ihn. Für einen Zufall hielt er das nicht.
Er nahm die Eule heraus und spürte sofort, dass sie echt war, eine Töpferarbeit der Maya und damit etliche hundert Jahre alt. So ein Objekt vergaß niemand einfach in einer Höhle.
Die Eule war bewusst hier zurückgelassen worden. Und sie war etwas Besonderes. Winzige Kristallsplitter steckten als Pupillen in den runden Augen, die für gewöhnlich nur aufgemalt waren. Die Figur sollte den Toten nicht bewachen, sie sollte ihn überwachen.
Abschätzend wog Tom die kleine Figur in der Hand und fragte sich drängender als zuvor, weshalb das Skelett in dieser Höhle lag. Und wer der Tote war. Die örtliche Polizei würde mit seiner Identifizierung überfordert sein. Nur ein Abgleich mit internationalen Vermisstenlisten und vielleicht ein Gebissabdruck konnten den erhofften Erfolg bringen.
Tom schob die Eule in die Nische zurück. Als er bemerkte, dass er sie mit den Kristallaugen zur Wand drehte, hätte er sich beinahe einen esoterischen Narren geschimpft.
Er ging die paar Schritte bis zum Höhleneingang. Das Gewitter hatte an Heftigkeit verloren und zog allmählich weiter. Die Blitze zuckten nicht mehr so dicht wie noch vor einer Viertelstunde. Aber immer noch herrschte trübes Zwielicht und der Regen prasselte herab. Ein Schlammrinnsal wälzte sich träge vor der Felswand vorbei.
Allmählich freundete sich Tom Ericson mit dem Gedanken an, vor Einbruch der Nacht nicht mehr in die Pension zurückzukehren. Zweifellos hatten Regen und Schlamm den Pfad in einigen Bereichen unpassierbar gemacht.
Zögernd wandte er sich um und musterte das Skelett. Schulterzuckend stellte er fest, dass er schon unangenehmere Gesellschaft gehabt hatte.
Bald kniete er wieder neben dem Toten, und diesmal wurde er fündig: Eine kleine, mit einem Plastikumschlag geschützte Kladde lag unter dem Skelett. Sie konnte nur in der Gesäßtasche gesteckt haben. Damit war die Gauguin-Theorie vom Tisch, denn Kunststoff hüllen hatte es zu dessen Lebzeiten noch nicht gegeben. War der Tote etwa ein Kollege gewesen?
Er trug selbst ein ähnliches Büchlein bei sich, und in der Universität von Yale bewahrte er eine umfangreiche Sammlung davon auf. Sie waren wie eine Blaupause seines Lebens. Zumindest der Hälfte seines Lebens. Seit die Technik seinen Alltag erobert hatte, waren Skizzen von Digitalfotos abgelöst worden, die sehr viel mehr zeigten als Bleistiftzeichnungen.
Tom nickte grimmig, als er den Notizblock an sich nahm. Selbst der Plastikeinband war schimmlig. Die Seiten waren irgendwann feucht geworden und zusammengeklebt. Bleistifteintragungen würden unter diesen Umständen kaum mehr zu entziffern sein.
Der Modergeruch wurde intensiver, als Tom den Staub wegblies. Ein kleines Etikett war auf den Einband aufgeklebt. Der Versuch, den verkrusteten Dreck wegzuwischen, scheiterte. Tom konnte den Namen nicht entziffern, der offenbar mit schwungvoller Handschrift geschrieben war.
Papierfetzen rieselten zu Boden, als er den Block vorsichtig aufschlug. Wie Tom schon befürchtet hatte, war das meiste verwischt und nahezu unleserlich geworden. Schon der Versuch, die Blätter voneinander zu lösen, ließ das Papier brechen.
Dann die Skizze einer Pyramide. Mit wenigen Strichen hingemalt und die Spitze mit einem schiefen Kreis eingerahmt.
Pyramiden gab es rund um die Welt. Es war müßig, ohne einen Hinweis darüber nachzudenken, wo ... Ericson stutzte. Die leichte Wellenlinie statt eines geradlinigen Seitenstrichs war womöglich nicht nur mit zittriger Hand aufgemalt, sondern genau so beabsichtigt.
Falls der Tote ein Kollege gewesen war, hatte er die Große Pyramide von Chichen Itza skizziert? Zweimal im Jahr, bei der Tag- und Nachtgleiche, fiel jeweils für wenige Stunden ein Schatten auf die Umfassungsmauern der Treppen. Dann schien es, als verlasse eine Schlange, das Symbol für die Kukulcan-Gottheit, das Tempelhaus auf der oberen Plattform und winde sich der Erde
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