2012 - Folge 3 - Tödliches Vermächtnis
Spanier wartete auf einen Kommentar, seine Anspannung war nicht zu übersehen.
Tom blickte auf. »Das ist nur sehr schwer zu lesen. Schon die Handschrift bereitet mir Probleme. Und die Sprache: Ich tippe auf mittelalterliches Kastilisch. Woher stammt das?«
»Mein Vater war bis ins hohe Alter ein reger Mann«, sagte Tirado. »Vor allem verstand er es, den Dingen auf den Grund zu gehen.«
Tom vertiefte sich wieder in die Handschrift. »Also hat die Kladde mit dem Artefakt zu tun?«
Tirado nickte. »Sie enthält Aufzeichnungen über seine Historie.« Der Spanier wandte sich dem Fenster zu, hinter dem allmählich die Dämmerung heraufzog. Es wurde früh dunkel Ende Oktober. Als er sprach, schien er mit seinen Gedanken in der Vergangenheit zu weilen. »Mein Vater hatte die Kladde erst Mitte der neunziger Jahre aufgespürt und teuer erworben. Er behauptete, das Geld und seine Zeit seien dafür gut angelegt. Bald darauf ist er gestorben.«
»Hat er nie versucht, den Text übersetzen zu lassen?«
»Doch, natürlich.« Mehr sagte Víctor Tirado nicht. Seine Miene verhärtete sich. Das Muskelspiel in seinem Gesicht zeigte, dass er die Zähne fest zusammenbiss. Sein Blick verlor sich in weiter Ferne.
Heftig zuckte Tirado zusammen, als Ericson sich nach einer Weile räusperte.
»Sie kennen also den Text?«, wollte der Archäologe wissen.
»Nein!« Das klang hart und abweisend, als sagte es ein anderer und nicht der Mann, mit dem Tom Ericson eben noch geredet hatte. »Mein Vater hat die Übersetzung vernichtet. Er hat sie verbrannt, kaum dass er sie gelesen hatte. Und mir nahm er den heiligen Schwur ab, dass ich den Text für alle Zeit ruhen lassen werde.«
»Sie wollen Ihren Schwur brechen?«, fragte Ericson verblüfft. »So sehr ich das begrüße, warum tun Sie das? Nachdem Sie über so viele Jahre …«
» Sie sind der Grund dafür!«, unterbrach Tirado. »Sie sind doch zu mir gekommen, weil Sie das Artefakt holen wollen. Aber nun ehrlich, Mister Ericson, oder wie immer Sie wirklich heißen mögen: Sie haben meinen Vater nie gekannt.«
Ein wenig zögerlich setzte Tom zu einer Erklärung an, wurde jedoch von Tirado daran gehindert.
»Warum haben Sie sich mit einer Lüge bei mir eingeschlichen? Mein Vater hat Ihren Namen nie erwähnt. Und halten Sie mich nicht für blind: Sie sind doch kaum halb so alt wie ich. Damals müssen Sie um die fünfzehn gewesen sein.«
»Man schätzt mich jünger ein, als ich bin.« Tom versuchte es mit einem Lächeln. »Das passiert Ihnen doch sicher auch ständig. Tatsächlich bin ich vierundfünfzig. Das kann ich Ihnen beweisen. Wenn Sie meinen Ausweis …« Er griff in die Innentasche seines Sakkos, verharrte dann aber mitten in der Bewegung. Eine spitze Klinge setzte sich in diesem Moment links neben sein Brustbein.
Für einen Moment war er abgelenkt gewesen. Tirado hatte einen Verschluss am Knauf seines Stocks umgelegt und einen schlanken Stockdegen aus der hölzernen Scheide gezogen. Jetzt stieß er die Klinge blitzschnell nach vorn und drückte die Spitze in Höhe des Herzens auf Toms Brust.
»Wollen Sie mich umbringen?«, ächzte Ericson.
»Vielleicht. Ich hätte es schon tun können – aber ich will von Ihnen eine Erklärung hören. Sie sollte allerdings gut sein.«
Tom hob die Hände. Sein Gegenüber war schnell, der Stichwaffe hatte er nichts entgegenzusetzen. Es lag lange zurück, aber in seiner Jugend hatte er drei Jahre lang Fechtunterricht erhalten. Schon deshalb wusste er, was ein geübter Kämpfer mit der geschmeidigen dünnen Klinge anrichten konnte.
»Was wollen Sie hören, Víctor?«
»Die Wahrheit über das Artefakt. Mein Vater hat mich stets gewarnt: Falls eines Tages jemand kommen und danach suchen würde, dann sollte ich denjenigen beseitigen. Um die Erde vor dem Untergang zu retten, wie er sagte.«
»Ich kenne die Wahrheit nicht«, sagte Ericson, während es ihm kalt den Rücken herunterlief. Die Erde vor dem Untergang retten … was sollte das bedeuten? Seymor Branson hatte eine Verbindung des Artefakts zum Maya-Kalender hergestellt, nach dem im Jahre 2012 die Welt untergehen sollte. Aber diese Prophezeiung war doch Humbug! Tom glaubte keinesfalls daran. »Wir werden sie schon zusammen suchen müssen«, fuhr er fort. »Falls Sie mich nicht vorher töten – wovon ich Ihnen dringend abrate.«
Die Klinge drückte ein wenig fester zu. Für einen Moment fürchtete der Archäologe tatsächlich, dass sein Gegenüber zustoßen würde. Obwohl er nicht den
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