Fatal - Roman
1
Ellen Gleeson rüttelte an ihrer Haustür, als etwas in der Post ihre Aufmerksamkeit erregte. Es war ein Flyer mit Fotos von vermissten Kindern, und einer der Jungen sah seltsamerweise wie ihr Sohn aus. Sie sah sich das Foto genau an, während sie noch einmal versuchte, den Schlüssel im Schloss zu drehen. Aber der Mechanismus klemmte, was an der Kälte liegen musste. Die Schaukeln der Kinder und die Autos der Erwachsenen waren mit einer dicken Schneekruste überzogen, und der Abendhimmel hatte die Farbe von gefrorenen Blaubeeren.
HABEN SIE DIESES KIND GESEHEN? Ellen starrte auf den Flyer. Die Ähnlichkeit zwischen dem Jungen auf dem Foto und ihrem Sohn war unheimlich. Sie hatten die gleichen weit auseinanderstehenden Augen, das gleiche kleine Näschen und das gleiche etwas unbeholfene Lächeln. Vielleicht lag es an der Beleuchtung auf der Veranda. Vielleicht war diese unangenehm gelbe Glühbirne daran schuld, die Ungeziefer abwehren sollte. Sie hielt das Foto näher vor die Augen, doch das Ergebnis war dasselbe. Die Jungen hätten Zwillinge sein können.
Merkwürdig. Ihr Sohn hatte keinen Zwillingsbruder. Sie hatte ein Einzelkind adoptiert.
Mit plötzlich aufflammender Ungeduld drehte sie den Schlüssel hin und her. Sie hatte einen langen Arbeitstag
hinter sich; Handtasche, Aktenkoffer, Post und chinesisches Fertigmenü drohten ihren Händen zu entgleiten und in den Schnee zu fallen. Der Duft gegrillter Rippchen umwehte sie. Ihr Magen begann zu grummeln.
Endlich gab der Mechanismus nach, die Tür sprang auf. Sie lud ihre Sache auf dem Beistelltisch ab, zog den Mantel aus und rettete sich fröstelnd in ihr warmes Wohnzimmer. Vorhänge mit Bordüre umrahmten die Fenster, eine rot-weiß karierte Couch lud zum Kuscheln ein, und die Wände waren mit Herzen und Kühen verziert. Zugegeben, recht kitschig - nicht gerade passend für eine ernsthafte Journalistin. Eine Plastikkiste quoll von Spielzeug über: Plüschtiere, Bilderbücher und Happy-Meal-Figuren. Schöner-Wohnen -Redakteure hätten die Stirn gerunzelt.
»Mama, schau!«, rief Will, der mit einem Blatt Papier auf seine Mutter zugelaufen kam. Die Ponyfransen flogen ihm aus dem Gesicht, und Ellen fiel der vermisste Junge auf dem Flyer wieder ein. Die Ähnlichkeit erschreckte sie, aber die Liebe zu ihrem kleinen Sohn war stärker als das ungute Gefühl.
»Hallo, mein Schatz!« Ellen breitete die Arme aus, hob ihren Jungen hoch und drückte ihn fest an sich. Will roch nach Haferflocken. Auf seinem Overall klebte Knetgummi.
»Iiih, ist deine Nase kalt.«
»Ich weiß. Sie muss gestreichelt werden.«
Will kicherte, wand sich auf Ellens Arm und wedelte mit dem Blatt Papier. »Guck mal, was ich gemacht hab. Extra für dich!«
»Lass sehen.« Sie setzte ihn ab und betrachtete seine Zeichnung: Ein Pferd graste unter einem Baum. Will hatte
mit Bleistift gezeichnet, aber auf keinen Fall freihändig. Dazu war das Bild zu perfekt. Und Will war kein Picasso. Meistens malte er Lastwagen. »Wow, ist das toll! Vielen, vielen Dank.«
»Hallo, Ellen«, sagte Connie Mitchell, das Kindermädchen. Sie kam aus der Küche und begrüßte Wills Mutter mit einem Lächeln. Connie war geradeheraus, dabei aber nachgiebig wie ein Marshmallow. Sie trug ein Sweatshirt der Uni von Pennsylvania, weit geschnittene Jeans und unförmige Lammfellstiefel. Um ihre braunen Augen zeichneten sich Fältchen ab, und ihr kastanienbrauner Pferdeschwanz war mit grauen Haaren durchsetzt. Connie besaß die Begeisterungsfähigkeit eines Teenagers - dessen Energie allerdings nicht immer. »Wie war dein Tag?«, fragte sie.
»Der Teufel war los. Und bei dir?«
»Alles in Ordnung.« Connie antwortete, wenn man ihr Fragen stellte. Das war nur einer der Gründe, warum sie für Ellen der reinste Segen war. Sie hatte mit Kindermädchen schon eine Menge Pech gehabt, und nichts war schlimmer, als sein Kind einer Betreuerin anvertrauen zu müssen, die nicht mit einem sprach.
Will wedelte immer noch mit seinem Bild: »Ich hab’s gemalt! Ganz allein!«
»Er hat’s von einem Malbuch abgepaust«, sagte Connie hinter vorgehaltener Hand. Sie ging zum Wandschrank und holte ihren Parka heraus.
»Ich hab’s gemalt!«
»Ich weiß. Und wie toll es ist!« Ellen fuhr durch Wills weiches Haar. »Wie war’s beim Schwimmen, Con?«
»Sehr gut.« Connie zog ihren Mantel an, und mit einer geschickten Handbewegung befreite sie ihren Pferdeschwanz
aus dem Parka. »Er schwimmt wie ein Fisch.« Sie nahm Hand- und
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