2012 - Folge 3 - Tödliches Vermächtnis
Seine Verwirrung, sein Erstaunen, seine Furcht – all das war für Tom Ericson offensichtlich gewesen.
» Es ist so leicht. Hat kein Gewicht. Es trinkt das Licht.«
Wortwörtlich so hatte der Grabräuber Béjar, der das Artefakt Mitte der Achtzigerjahre gefunden hatte, es formuliert. Die Worte eines Geisteskranken, dem das Schicksal übel mitgespielt hatte.
Alles Mögliche hatte Tom in den letzten zwei Wochen in diese kurzen Sätze hineininterpretiert.
Das Artefakt, dessen Spur er zu folgen versuchte, stammte aus einem Maya-Grab. Ein Gegenstand, der Licht trank … es aufsaugte … der das Licht vielleicht anzog wie eine Magnet Eisenspäne. Auch wenn der Archäologe keine Ahnung hatte, wie das physikalisch möglich sein sollte.
Für kurze Zeit hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, sich mit CERN in Verbindung zu setzen, der Europäischen Organisation für Kernforschung. Aber die Gefahr, seine Reputation zu verlieren, war ihm letztlich zu groß erschienen. Was hatte er schon zu bieten außer der Aussage eines Geisteskranken? CERN betrieb physikalische Grundlagenforschung. Mit Hirngespinsten hatten die Wissenschaftler dort bestimmt nichts am Hut.
Doch sogar im 21. Jahrhundert gab es noch vieles zwischen Himmel und Erde, das sich jeder rationalen Deutung entzog, das hatte Tom Ericson bei seinen Forschungen immer wieder selbst erlebt. So wie man Radiowellen im Mittelalter als Teufelswerk angesehen hätte, so mochte ein Licht schluckendes Gerät heute zwar undenkbar, in fünfzig oder hundert Jahren aber in jedem Haushalt zu finden sein.
Ericson wischte die Überlegungen beiseite. Er durfte sich nicht von denkbaren technischen Entwicklungen irritieren lassen. Der Gegenstand, von dem Béjar gesprochen hatte, war immerhin einige Jahrhunderte alt.
Tom hielt inne.
In Gedanken versunken, wäre er beinahe an seinem Ziel vorbeigelaufen.
»Um was geht es?«, fragte eine Frauenstimme.
Der Archäologe lächelte. Natürlich hatte er das verborgene Kameraobjektiv entdeckt, das ihn schräg aus der Höhe fixierte.
»Das kann ich nur mit Señor Carcía-Carrión persönlich besprechen«, antwortete Tom.
Aus dem kleinen Lautsprecher in der Steinmauer erklang ein leises Knacken. Sekunden später wiederholte sich das Geräusch.
»Wie, sagten Sie, ist Ihr Name?«
»Ericson. Tom Ericson. Ich bin Archäologe – und ich bin hier, weil ich auf Señor Carcía-Carrións Sammlung hingewiesen wurde.«
»Sie sind angemeldet, Señor?«
Es behagte ihm nicht, wie ein Versicherungsvertreter auf dem Gehweg zu stehen und hingehalten zu werden. Er fragte sich, ob er womöglich nur mit einer Haushälterin redete, deren Befugnisse eng begrenzt waren. Ob der Kunstsammler verheiratet war, hatte er nicht herausgefunden. Allerdings standen zwei schwere Autos in der Auffahrt.
»Von einem seiner Sammlerkollegen wurde mir Señor Carcía-Carrión als Ansprechpartner genannt«, fügte Tom hinzu.
Diesmal fiel die Pause länger aus. Zweifellos holte sich die Frau an der Gegensprechanlage Anweisungen ein. Schließlich, als Tom schon nicht mehr damit rechnete, setzte sich das schmiedeeiserne Tor summend in Bewegung.
»Kommen Sie herein, Señor. Sie werden erwartet.«
Er nickte knapp in Richtung der Kamera. Das Tor öffnete sich nur so weit, dass er passieren konnte. Hinter ihm schloss es sich bereits wieder.
Hüfthohe Weihnachtssterne säumten die gepflasterte Einfahrt. Der Garten machte einen sehr gepflegten, beinahe schon sterilen Eindruck. Hundegebell erklang hinter dem Haus, verstummte aber schnell. Das waren mindestens zwei größere, scharf abgerichtete Tiere.
Tom registrierte das alles und setzte sein Mosaikbild zusammen. Pedro Carcía-Carrión war spanischer Konsul in mehreren Ländern Mittel- und Südamerikas gewesen, befand sich aber seit mindestens zwei Jahrzehnten im Ruhestand. Nur ein einziges Foto hatte das Internet preisgegeben, und das war ziemlich alt. Es zeigte eine stattliche Gestalt mit schulterlangem Lockenhaar und markantem Henriquarte-Bart, der Mund- und Kinnpartie umrahmte.
Der Mann schien sehr betucht zu sein, protzte aber nicht mit seinem Reichtum. Das Anwesen wie die beiden Limousinen gaben das dezent zu erkennen. Womöglich hatte Carcía-Carrión das meiste Geld in seine Kunstsammlung investiert.
Als Kandidat für ein Artefakt, das »Licht trank«, fand Tom, kam der Spanier auf jeden Fall in Betracht.
Er hatte tatsächlich mit einer Haushälterin gesprochen. Sie nahm ihn in Empfang und führte ihn in ein
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